Serienkonsum: ein religiöses Ritual?
Netflix – die neue Religion?
Die Kirche verliert Mitglieder. Liegt’s daran, dass die Leute jetzt lieber bei Netflix ihre Beiträge zahlen?
Schäfchenschwund
Die Kirche verliert ihre Schäfchen, wie eine Studie des „Forschungszentrums Generationenverträge“ der Uni Freiburg von 2019 zeigt: bis 2060 fast die Hälfte ihrer Mitglieder in Deutschland. Die Ursache? Liegt in der Kirche selbst: Negative Schlagzeilen, wie Missbrauchsfälle oder kirchliche Finanzaffären, sind laut Tageschau wesentlich stärker für den Mitgliederrückgang verantwortlich, als demografische Faktoren. Die potentiellen Austreter sind jüngere Menschen zwischen 25 und 40 Jahren.
Ist die Kirche nicht mehr zeitgemäß? Nicht mehr cool genug? Früher sagte uns die Kirche, was wir zu denken und zu sagen haben. Doch von kirchlichen Zwängen und Vorgaben haben wir uns schon lange befreit. Oder? Nicht ganz, denn es bestimmt immer noch eine Religion in Deutschland: Netflix. Beim Streaming-Anbieter wachsen die Abonnenten-Zahlen jährlich. Weltweit hat Netflix mittlerweile gut 163,92 Millionen Jünger, auch Abonnenten oder Kunden genannt.
Serienkonsum: ein religiöses Ritual?
Die Gesellschaft verändert sich. Und Netflix, das neue Leitmedium, verändert die Nutzungsgewohnheiten dieser Gesellschaft. Gott ist Allmächtig – aber wir können ihn nicht auf dem Smartphone, Laptop, Tablet, der X-Box, Playstation oder dem Fernseher abrufen, zu jeder Zeit an jedem Ort, offline wie online. Und anstatt sonntags in die Kirche zu gehen, konsumieren wir lieber gut produzierte Serien. Auch sie bieten ein wiederkehrendes Erzählmuster mit bekannten Regeln. Auch sie schaffen Vertrautheit und das Gefühl der Kontinuität – religiösen Ritualen sehr ähnlich.
Das ist eine neue Form der Anbetung: Der Bildschirm ist der neue Schrein. Die Fernbedienung sind die neuen Kerzen. Die Liste der Serien die neue Sammlung an Versen. Erstaunlich: Denn die Mission – ob gewollt oder nicht – ist die gleiche: Botschaften verkünden. Das muss nicht immer zwingend schlecht sein.
Zuflucht in der Serie?
Für Netflix sind die Abonnenten keine passiven Reizempfänger. Frontalkommunikation gibt es nur in der Kirche und – wenn die Fernbedienung zu weit vom Sofa entfernt liegt – im klassischen TV. Vielmehr sollen die Abonnenten mit dem Serienkonsum ihre sozialen Bedürfnisse befriedigen können, ihre eigene Identität finden oder Lösungswege für ihre Alltagsprobleme aufgezeigt bekommen. Die Erzählstrukturen vieler Serien sind dank Netflix komplexer, die Themen deutlich fordernder geworden – man vergleiche nur Lassie (1954) mit Game of Thrones (2011). Kluge Collin-Hündin in heiler Welt versus zwielichtige Charaktere jenseits von Gut und Böse.
Und so glauben viele von uns, bei solchen Serien innere Beichte abzulegen und die Katharsis zu erlangen. Die Kirche ist ein Zufluchtsort, ein Ort der Geborgenheit. Allerdings vergrault sie ihre Schäfchen. Zum Vergleich: Ein Blick auf den Streaming-Konsum zeigt, dass viele von uns in Netflix und Co einen geistigen Zufluchtsort sehen. Laut Netflix-Vizepräsidentin Cindy Holland schauen die Abonnenten im Schnitt zwei Stunden am Tag auf der Plattform. Viele betreiben den Realitäts-Eskapismus noch viel intensiver. Der durchschnittliche Fernseh-Konsum liegt in Deutschland bei drei Stunden am Tag, also 21 Stunden in der Woche! Das ist länger, als die Menschen früher je in der Kirch waren oder je in der Bibel gelesen haben. Was für eine Macht!
Losing My Religion?
Netflix steht „für ein besonders nutzerfreundliches und entgegenkommendes Angebot, weiß aber auch, mit welchen Mitteln sich Nutzer dem Serien-Vergnügen nur schwer wieder entziehen können“ (Goßing 2018). Wenn die Kirche ihre Mitglieder nicht an Netflix verlieren will, muss sie sich im Spannungsfeld zwischen kirchlicher Tradition und zeitgemäßer Kirche positionieren. Oder was denken Sie?