Sind wir zu bequem geworden? Warum wir vor allem schlauer statt mehr arbeiten müssen
Wir arbeiten in Summe nicht zu wenig – aber ungerecht verteilt. Der Wunsch nach Mehrarbeit ist da, scheitert aber häufig am System.
Ich verfolge mit Spannung die gerade wieder angefachte Diskussion darüber, wie viel wir Deutschen arbeiten müssen, damit endlich wirtschaftlich bessere Zeiten anbrechen. Können – müssen! – wir uns qua Arbeitskraft am eigenen Schopfe aus der Misere ziehen? Sind wir zu bequem geworden? In der Diskussion werden auch die Vier-Tage-Woche oder Begriffe wie Work-Life-Balance instrumentalisiert. Und als jemand, der in einem Unternehmen arbeitet, das das Thema New Work im Namen führt, werde ich da ganz besonders hellhörig – vor allem deshalb, weil die Debatte eher ideologisch als sachlich geführt wird. Während die einen implizieren, dass allein die Idee einer Vier-Tage-Woche ein Zeichen mangelnder Leistungsbereitschaft sei, ist sie für andere ein zentraler Weg zu mehr Arbeitsgerechtigkeit.
Die Realität ist allerdings komplexer. Das fängt schon damit an, dass es die Vier-Tage-Woche gar nicht gibt. Es ist ein Modell mit vielen Optionen: Manche verstehen darunter Arbeitszeitreduzierung bei vollem Lohnausgleich, andere meinen damit eine klassische 40-Stunden-Woche, verteilt auf vier längere Tage. Für wieder andere ist es im Wesentlichen eine flexiblere Einteilung der wöchentlichen Arbeitsstunden – trotzdem tun alle so, als würden sie über dasselbe reden.
Ein Blick auf die Zahlen hilft, die Debatte zu versachlichen: Zwar ist die durchschnittliche Jahresarbeitszeit pro Erwerbstätigem in Deutschland in den letzten 20 Jahren tatsächlich gesunken – von rund 1.435 Stunden 2005 auf 1.332 Stunden 2024. Werden wir also tatsächlich immer fauler? Nein. Denn gerade erst hat das Statistische Bundesamt auf der Grundlage des Mikrozensus aktuelle Daten veröffentlicht: Insgesamt sind 77 Prozent der Personen zwischen 15 und 64 Jahren erwerbstätig – ein Höchststand. Gleichzeitig ist das gesamte Arbeitsvolumen in den vergangenen 20 Jahren deutlich gestiegen – und erreichte 2024 einen Rekord von rund 61,4 Milliarden Stunden (2005: 56,3 Mrd.).
Und auch im europäischen Vergleich müssen wir uns nicht verstecken: Zwar rangiert Deutschland bei der Arbeitszeit am unteren Ende, liegt aber beim Bruttoinlandsprodukt weit vorn – 2023 erwirtschaftete es das mit Abstand höchste BIP der EU und trägt konstant zu rund einem Viertel der gesamten Wirtschaftsleistung der EU bei. Diese Zahlen zeigen: Mangelnde Leistungsbereitschaft ist nicht das Problem.
Ist die Vier-Tage-Woche für rund ein Drittel schon Realität?
Das gestiegene Arbeitsvolumen liegt vor allem daran, dass mehr Frauen mit im Arbeitsmarkt vertreten sind. Waren vor 20 Jahren noch 59 Prozent erwerbstätig, sind es jetzt 74 Prozent. Das ist jedoch nur eingeschränkt positiv. Denn fast die Hälfte aller Frauen (49 Prozent) arbeiten in Teilzeit, aber nur 12 Prozent der Männer. Mit 29 Prozent ist die Teilzeitquote so hoch wie nie. Das heißt im Umkehrschluss: Wir arbeiten nicht zu wenig, sondern zu ungerecht verteilt.
Rund 15 Prozent der Teilzeitbeschäftigten würden gern mehr arbeiten, wenn sie könnten. Das sind immerhin rund zwei Millionen Menschen. Auch viele Ältere sind bereit, über die gesetzliche Altersgrenze hinaus zu arbeiten, sofern die Anreize stimmen – und auch bei den sogenannten stillen Reserven, also Personen, die beschäftigungslos, verfügbar und arbeitsuchend sind, liegen erhebliche ungenutzte Potenziale.
Aber schaffen wir auch die richtigen Rahmenbedingungen für mehr Leistung? Nutzen wir brachliegende Potenziale? Unterstützen wir diejenigen, die (mehr) arbeiten wollen, mit passenden Angeboten? Tatsache ist: Erwerbsbiografien haben sich verändert – etwa durch den demografischen Wandel und Familien- oder Pflegeverantwortung. Wo früher ein Gehalt für ein Häuschen im Grünen gereicht hat, kommen viele heute mit zwei Gehältern gerade so über die Runden. Der Wunsch nach Mehrarbeit scheitert häufig an fehlender Kinderbetreuung, mangelnden Angeboten von Vollzeitstellen oder unflexiblen Arbeitszeitmodellen.
Mehr Arbeit? Ja, aber anders
Die Frage ist also nicht: Wie schaffen wir es, dass alle mehr arbeiten? Sondern: Wie schaffen wir es, dass alle so viel arbeiten können, wie sie wollen? Was wir brauchen, ist weniger Ideologie, mehr Flexibilität – und bessere Rahmenbedingungen.
Statt weiterer Regulierung brauchen wir mehr administrative Spielräume. Wir brauchen eine Arbeitswelt, die unterschiedliche Lebensphasen, Bedürfnisse und Arbeitsweisen zulässt – vom Vier-Tage-Modell über Vertrauensarbeitszeit bis zur temporären Auszeit oder freiwilligen Mehrarbeit. Wer alles über einen Kamm schert, wird weder den Menschen noch den Unternehmen gerecht. Eine Diskussion über den Sinn von Work-Life-Balance ist da eher kontraproduktiv. Denn Work-Life-Balance heißt für viele nicht, dass sie reichlich Zeit haben, ihren Hobbys nachzugehen. Realistischerweise verbringen viele Berufstätige ihre Freizeit mit Care-Arbeit – je nach Alter für Kinder, Eltern oder beides.
Wir brauchen ein anreizgetriebenes Konstrukt, das (Mehr-)Arbeit attraktiv macht und dabei die individuellen Bedürfnisse der Menschen nicht vergisst. Wir müssen ran an die Ursachen und sollten pragmatische und umsetzbare Modelle entwickeln, die funktionieren.
Realistischerweise wird das für einige Bereiche schwierig sein. Der Einzelhandel hat Öffnungszeiten, die abgedeckt werden müssen, auch Gesundheitsversorgung oder öffentlicher Nahverkehr können nicht nach den Bedürfnissen Einzelner komplett umstrukturiert werden. In der Industrie hängt Produktivität wesentlich davon ab, dass Maschinen und Kapazitäten so gut wie möglich ausgelastet sind, und Dienstleister können nicht einfach ihre Sales-Aktivitäten auf bestimmte Zeitfenster begrenzen. Mir geht es um Flexibilität und die Fähigkeit, Arbeitszeit neu zu denken. Vieles davon liegt in der Hand von Unternehmen und Unternehmern – aber nicht alles. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft müssen gemeinsam die Bedingungen dafür schaffen, dass sich mehr Leistung nicht nur lohnt, sondern überhaupt erst möglich wird. Wir brauchen keine neuen alten Konzepte für unsere heutige Arbeitswelt – sondern kluge.