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Wiedervereinigung im Sport: Rudern im selben Gewässer?

Interview mit Dr. Colin von Ettingshausen

Herr von Ettingshausen, sie haben die Wiedervereinigung als Ruderer der Deutschen Nationalmannschaft erlebt. Welche Erinnerungen haben Sie daran?

Ein Großteil der Mannschaft hatte auf verschiedenen Regatten vor und hinter dem „Eisernen Vorhang“ bereits Wettkämpfe gegeneinander bestritten. In der Saisonvorbereitung 1990 / 1991 fanden dann die ersten gemeinsamen Trainingslager statt. Es trafen sportlich erst einmal zwei Welten aufeinander.

Das war sehr spannend, denn erfahrungsgemäß war es alles andere als einfach, sich gegen Mannschaften aus unserem Nachbarland durchzusetzen. Die Westdeutsche Bilanz war doch eher gemischt. Entsprechend hoch war schon immer der Respekt vor den Booten aus dem Osten unseres Landes. So fanden wir ruderisch zusammen.

Wie lief das persönliche Kennenlernen?

Sportler kennen keine Ländergrenzen, beim Wettkampf auf dem Wasser schon, sonst aber nicht. Es gab natürlich individuelle Unterschiede. Startschwierigkeiten im Mannschaftsgefüge insgesamt gab es aber kaum, im Gegenteil. Abseits der Trainingspläne lernten wir die jeweiligen Trainingsorte beider Seiten und uns gegenseitig besser kennen. Das war auf den Regatten vor der Wende noch nicht möglich.

Dennoch hatten größere Teile der Mannschaft ganz andere Themen außer Rudern erst noch vor sich ...

Das stimmt natürlich, denn das gewohnte Umfeld änderte sich besonders im Osten sehr oder brach in vielen Teilen und in kurzer Zeit komplett weg. Für einige in Ost und in West bedeutete die wiedervereinte deutsche Ruder-Nationalmannschaft das Ende der eigenen Rudersport-Laufbahn. Bei manchen reichte die sportliche Leistungsfähigkeit nicht mehr aus, um weiter Teil der Mannschaft zu bleiben. Bei anderen wurden die Gelder für vorhandene Stellen oder laufende Projekte gestrichen.

Was diese Umbrüche vor Ort speziell für die Menschen in den neuen Bundesländern bedeuteten war nur zu erahnen. Ihr Umgang damit hat mich damals wie heute sehr beeindruckt. Alle bereiteten sich so gut es eben ging auf die kommenden Aufgaben vor. Die Situation in den alten Bundesländern war vergleichsweise stabil, die Ausgangssituationen deshalb sehr unterschiedlich.

Wie verlief die Saison dann weiter?

Die Ruder-Nationalmannschaft der DDR war im November 1990 im australischen Tasmanien die letzte Nationalmannschaft, die für die DDR an einer Weltmeisterschaft teilgenommen hat. 1991 ging in Wien die erste gesamtdeutsche Ruder-Nationalmannschaft an den Start, mit großen Erfolgen, die bei den Olympischen Spielen 1992 mit 10 Medaillen in 14 Wettbewerben gekrönt wurde.

Wien war auch Ihre erste Weltmeisterschaft, Barcelona Ihre ersten Olympischen Spiele. Was ist Ihnen davon besonders im Gedächtnis geblieben?

Teil der ersten gesamtdeutschen Mannschaft zu sein war etwas sehr Besonderes. Ich erinnere mich noch genau an die Euphorie und die Aufbruchsstimmung. Wir saßen wiedervereint im selben Boot selbst wenn die einzelnen Mannschaften zunächst noch wenig gemischt mit „Ost“ und „West“ waren. Die Zeit war auch geprägt durch die vielen Erfolge, die wiederrum unsere sportliche Vereinigung erleichterten.

Sie leben seit vielen Jahren in Ostdeutschland. Sitzen wir nach 30 Jahren heute auch alle im selben Boot?

Unsere Wiedervereinigung betrachte ich als eine große historische Erfolgsgeschichte. Darauf können wir stolz sein. Man darf bei aller Begeisterung nur nicht unerwähnt lassen was schiefgelaufen ist und was noch vor uns liegt. Ob wir heute alle im selben Boot sitzen muss differenziert und je nach Thema betrachtet werden. Insgesamt sicher „Ja“! Auf jeden Fall rudern wir alle auf demselben Gewässer.

Man sagt Rudern sei mehr als ein Sport, warum ist dem so?

Rudern schult Fähigkeiten und Charaktereigenschaften, die auch für das Leben allgemein wichtig sind. Teamwork, Sportsgeist, Fair-Play, Balance, Koordination oder Kraft. Rudern ist auch eine Metapher und ein Reallabor für eine Welt, die sich kontinuierlich verändert.

Welche Erfahrungen der rudersportlichen Wiedervereinigung könnten zur Lösung aktueller Herausforderungen beitragen?

Erst einmal ist es wichtig gemeinsame Ziele zu haben. Diese zu erreichen funktioniert insbesondere beim Rudern nur zusammen. Nicht umsonst gilt Rudern als die Teamsportart schlechthin. Viele der heutigen Themen sind auch so komplex, dass sie nur gemeinsam gelöst werden können.

Moderne Technologien müssen die Zielerreichung unterstützen. Unser Bootsmaterial war Weltklasse. Ebenso sollte die Aufstellung der Organisation der vereinbarten Strategie entsprechen. Das heißt für einen Achter: 8 Ruderer plus Steuermann und nicht 7 oder noch weniger.

Lebenslanges Lernen zur persönlichen Weiterentwicklung sichern die individuelle Leistungsfähigkeit und die des Teams. Was im Training nicht klappt, funktioniert im Wettkampf nur selten. Die Simulation von Belastungs-Situationen gehört deshalb auch in jeden Weiterbildungsplan.

Regelmäßige Ruder-Wettkämpfe oder Vergleiche mit anderen Sportarten bringen Erkenntnisse zur kontinuierlichen Weiterentwicklung oder initiieren bahnbrechende Innovationen. Daraus entstehen Spitzenleistungen und Wettbewerbsfähigkeit.

Unabdingbar sind Erholungsphasen, sonst entsteht Übertraining, das zu Verletzungen führen kann. Für das richtige Verhältnis von Spannung und Entspannung in einem Unternehmen sind gute Führung, Zusammenarbeit und Zusammenhalt auf dem Wasser und an Land ausschlaggebend.

Die Welt wird immer unvorhersehbarer, ungewisser, komplexer und vieldeutiger. Mit Resilienz tiefgreifende Umbrüche bewältigen zu können ist deshalb eine Fähigkeit, die immer wichtiger wird. Diese Kompetenz beinhaltet auch eine positive Haltung zu Veränderungen allgemein.

Wie soll es nun weitergehen?

Mit der richtigen Mischung aus Optimismus und Disziplin. Der Klimawandel, die Strukturbrüche der Digitalisierung, die Demografie oder die Ausbreitung des Corona-Virus lassen sich nur gemeinsam bewältigen. Es wird deshalb immer wichtiger unsere Kräfte zu bündeln, um in dieselbe Richtung zu rudern.

Zur Person:

Dr. Colin von Ettingshausen ist Executive mit mehr als 20 Jahren internationaler Erfahrung in der chemischen Industrie. Zuletzt von 2012 bis Mai 2020 kaufmännischer Geschäftsführer und Arbeitsdirektor der BASF Schwarzheide GmbH. Von 1999 bis 2012 verschiedene Positionen im Vertrieb für Autoreparaturlacke des BASF Unternehmensbereichs Coatings Solutions mit Stationen in Münster, Johannesburg, Posen, Salzburg und Yokohama.

Geboren 1971 in Düsseldorf. Studium der Betriebswirtschaftslehre in Dortmund und Plymouth (UK). Studium der International Relations, Politics und Economics in Oxford. Silbermedaille im Zweier ohne Steuermann bei den Olympischen Spielen von Barcelona 1992. Ruder-Weltmeister im Deutschlandachter in Prag 1993. Schlagmann des Oxford Achters im University Boat Race gegen Cambridge 1999. Heute u.a. Mentor in der Wertestiftung der Deutschen Sporthilfe.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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