Wo der Mensch mehr zählt als das Zeugnis – JOBLINGE schließt die Lücke zwischen Herkunft und Zukunft
Im Gespräch mit Verena Lenzen, Leitung Strategische Partnerschaften/ Unternehmenskoordination bei der Joblinge gAG Hanse für Bremen und Hamburg
Junge Menschen, die es aus eigener Kraft nicht schaffen, bekommen bei uns die passende Unterstützung dabei, ihren Weg in eine Ausbildung zu finden. Deren Handicap nennt man im Behördendeutsch multiple Vermittlungshemmnisse. Das kann die Bildungsbiografie sein, das kann der sozioökonomische Hintergrund oder eine Migrations- und Fluchtvergangenheit sein. Es kann aber auch eine psychische Gemengelage sein, die sie gerade zum jetzigen Zeitpunkt daran hindert, eine Ausbildung zu beginnen. Dabei gibt es einen unglaublichen Mismatch auf dem Arbeitsmarkt. Allein in Hamburg hatten wir im letzten Jahr 14.000 unbesetzte Ausbildungsplätze. Im Gegensatz dazu gibt es bundesweit über 500.000 junge Menschen unter 25 Jahren, die keine Ausbildung finden. Viele Unternehmen scheuen sich, jungen Menschen eine Chance zu geben, deren Zeugnisse schlechte Zensuren und viele Fehlzeiten aufweisen. Das Prinzip von JOBLINGE funktioniert über Praxis, über echte Begegnungen und zwischenmenschliche Überzeugungen. Wir holen unterschiedliche Akteure mit ins Boot und arbeiten mit der Wirtschaft ebenso wie mit den Jobcentern zusammen. Dass dieser Ansatz erfolgreich ist, lässt sich messen. Wir haben eine Vermittlungsquote von 78 Prozent.
Die Idee wurde aus rein volkswirtschaftlicher Perspektive geboren. Aus der Gegenüberstellung von Jugendarbeitslosigkeit und den Kosten, die sie verursacht, resultierte die Überlegung, wie sich Wirtschaft und soziale Arbeit zusammenbringen lassen, um aus Empfängern Einzahler zu machen. Auf der Grundlage dieser Idee haben die Boston Consulting Group und die Eberhard von Kuenheim Stiftung, jetzt BMW Foundation Herbert Quandt, vor elf Jahren JOBLINGE initiiert. Daraus ist ein Franchise-Modell mit derzeit bundesweit neun gemeinnützigen Aktiengesellschaften entstanden. Diese eher unbekannte Unternehmensform hat den Vorteil, dass wir einen Aufsichtsrat mit Akteuren aus der Wirtschaft haben, was uns bei den Unternehmenspartnern ein ganz anderes Standing verschafft, weil wir auf Augenhöhe kooperieren können.
Der größte Teil der Finanzierung, ungefähr 70 Prozent, kommt von den Jugendberufsagenturen. Wir haben aber auch starke wirtschaftliche Partner, die uns langjährige Finanzierungen gewährleisten, und wir haben den Drittmittelsektor mit an Bord, das heißt, dass Stiftungen uns über Spenden mitfinanzieren.
Wir starten mit einer zweitägigen Aufnahmephase, die darin besteht, ein gemeinnütziges Projekt zu begleiten. Durch diese gemeinsame Arbeit erfahren wir viel über Hintergründe, Motivation und Arbeitseinstellung der Bewerberinnen und Bewerber.
In der sich anschließenden achtwöchigen Orientierungsphase geht es um ausbildungsrelevante Themen, wie Bewerbungsunterlagen und Berufsorientierung. Schon an dieser Stelle holen wir die Expertise der Wirtschaft in Form von ehrenamtlichen Beratern mit ins Boot, um ein realistisches Bild des Arbeitslebens zu vermitteln. Dazu kommen Unternehmenspräsentationen und Betriebsbesichtigungen. Wir schauen uns die Arbeitsstrukturen vor Ort an, sprechen mit Ausbildern und Azubis. Ein ganz wichtiger Programmpunkt ist unser einwöchiges Kulturprojekt mit Impro-Theater. Es geht darum, sich im geschützten Raum auszuprobieren, die eigenen Grenzen zu überwinden, die Komfortzone zu verlassen. Denn später im Arbeitskontext müssen die Jugendlichen ja Dinge machen, die sie sich eigentlich nicht zutrauen, und bei uns lernen sie, auf unvorhersehbare Situationen adäquat zu reagieren.
Anschließend geht es in die Praxisphase, in der die jungen Leute die Möglichkeit bekommen, über drei Monate unterschiedliche Berufsfelder kennenzulernen. In der Regel machen sie zwei bis drei Praktika, bis sie eine Ausbildungszusage bekommen.
Wir hatten eine junge Frau im Programm, die zu Beginn sehr demotiviert und vor allem orientierungslos war. Ihr Kleidungsstil und ihre Tattoos ließen anfangs nicht vermuten, wo sie später beruflich landen würde:.Als wir in einem 5-Sterne-Hotel zur Besichtigung waren, machte es bei ihr klick. „Hier will ich arbeiten!“, hat sie beschlossen, kaufte sich neue Klamotten und kam ab Tag eins im Praktikum mit weißer Bluse und ordentlichem Zopfzur Arbeit. Sie blühte förmlich auf, obwohl sie Hotelfachfrau überhaupt nicht als Berufswunsch in Erwägung gezogen hatte. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen mit uns in Bereiche hinein, die sie vorher allein nie betreten hätten oder gar nicht kannten. Ein junger Mann aus der letzten Gruppe hat eine Ausbildung zum Landwirt begonnen, eine andere wird Bademeisterin.
Ein extremes Beispiel ist ein junger Mann, der über einen großen Schatten springen musste, um zu uns zu kommen: für ihn war bereits die Frühverrentung beantragt, niemand hielt ihn für arbeitsfähig. Mit 22 Jahren. Er selbst hatte aber noch Hoffnung und konnte jetzt - nach unserer Starthilfe - gerade seine Ausbildung zum Anlagenmechaniker als Bester seines Jahrgangs abschließen.
Wir arbeiten sowohl mit größeren Konzernen zusammen, die sich bundesweit an unterschiedlichen Standorten mit ihren Teams einbringen, als auch mit kleinen und mittelständischen Unternehmen, die vor allem lokal aktiv sind. Bundesweit haben wir knapp 3.000 Partnerunternehmen. Wenn wir fragen, warum jemand mit uns zusammenarbeiten will, heißt es häufig: Wir können es uns nicht leisten, es nicht zu tun. Das hat ganz viel mit einem Umdenken in der Mitarbeiterkultur zu tun. Heutzutage sind Arbeitgeber gefragt, die sich sozial engagieren und ihren Mitarbeitenden eine sinnstiftende Tätigkeit im Rahmen ihres Arbeitsverhältnisses ermöglichen. Das trägt zu einer großen Zufriedenheit bei und stärkt meines Erachtens nach auch die Loyalität der Mitarbeitenden zum Unternehmen. Der für mich wichtigste Punkt einer Zusammenarbeit mit uns liegt darin, gesellschaftliche Verantwortung übernehmen zu wollen. Im Jahr 2025 werden wir fünf Millionen Fachkräfte zu wenig haben. Es nutzt aber nichts, darüber zu lamentieren, die gute Nachricht ist, dass jeder etwas dagegen tun und sich einbringen kann
Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, sich zu engagieren. Wir haben da drei Säulen definiert: 1. Möglich machen. Unsere Impact-Partner unterstützen uns finanziell, damit wir handlungsfähig bleiben. 2. Chancen schaffen, Nachwuchs generieren. Da geht es darum, Ausbildungs- und Praktikumsplätze anzubieten. 3. Gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Das heißt, sich bei uns in unterschiedlichsten Ehrenamtsformaten zu engagieren. Das Mentoring wird von Unternehmen übrigens auch gern mal als Teil des Führungskräfte-Entwicklungstrainings genutzt. Ein Finanzunternehmenhier in Hamburg hat beispielsweise aus der Unterstützung für unseren digitalen Bewerbungs-Marathon ein Team-Event gemacht.
Bewerbungsanschreiben zu verfassen ist ziemlich schwierig und ermüdend für unsere Teilnehmenden. Deshalb wollen wir mit dem digitalen Bewerbungsmarathon mal richtig Gas geben. Im Vorfeld werden potentielle Ausbildungsplätze oder Partnerunternehmen herausgesucht und dann hat jede/r Einzelne sieben Stunden Zeit, um zehn Bewerbungen zu verschicken. Wir bilden digitale Tandems und die Teilnehmenden arbeiten mit den zugeschalteten ehrenamtlichen Unterstützern zusammen. Dazwischen gibt es Pausen, in denen wir gemeinsam Sport machen, jeder bekommt eine Pizza nach Hause geschickt. Ein sehr motivierendes Event, an dessen Ende jede/r einen riesigen Batzen Arbeit geschafft hat.
Im letzten Jahr haben wir gemerkt, dass die Digitalisierung immer mehr unser aller Alltag bestimmt – privat, aber auch beruflich unsere Teilnehmenden kommen allerdings nicht immer damit zurecht. Daraus ist jetzt ein neues Programm entstanden. Wir wollen spätestens im dritten Quartal 2021 mit einem dreiwöchigen Digicamp starten, um Digitalkompetenzen zu vermitteln und die Teilnehmenden bestmöglich auf digitale Prozesse in ihrer Ausbildung vorzubereiten. Das betrifft ja nicht nur IT-Berufe, sondern den Ausbildungsalltag grundsätzlich; selbst Lager-Logistiker oder Elektroniker erfassen alles fast nur noch mit digitalen Devices.
Für diesen neuen Programmansatz brauchen wir kompetente Partner und Praktiker aus der Wirtschaft. Wir würden uns sehr freuen, bei diesem Schritt jemanden an unserer Seite zu wissen, der im Bereich digitales Arbeiten schon ein großer Player ist. So macht es für alle Beteiligten erst wirklich Sinn. Es wäre ja toll, wenn sich hier durch dieses Interview neue Kooperationen ergeben.
Service-Info:
Mehr Infos zur Initiative gibt es hier: https://www.joblinge.de/