Zur Bedeutung von Health Literacy und organisationsbezogener Gesundheitskompetenz
Individuelle Gesundheitskompetenz wird im deutschsprachigen Raum in der Regel als Pendant zum englischen Begriff „Health Literacy“ verstanden. Sie ist ein wichtiger Schwerpunkt für die öffentliche Gesundheit sowie die Gesundheitsversorgung. Allgemein definiert wird sie als Kompetenz, die das Wissen, die Motivation und menschliche Fähigkeiten umfasst, sich Gesundheitsinformationen zu erschließen, diese zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden, um im Alltag richtige Entscheidungen über die eigene Gesundheitsversorgung, Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung zu treffen. Ziel ist es, die Lebensqualität im Laufe des Lebens zu erhalten oder zu verbessern. Zudem wird die Rolle des Einzelnen im Gesundheitswesen aufgewertet und ganzheitlich betrachtet. Der Bekanntheitsgrad dieses Begriffs „Health Literacy“ ist stark mit der World Health Organization (WHO) und dem Australier Don Nutbeam verbunden. In der Literatur wurde Health Literacy auch häufig im Zusammenhang mit dem wesentlich älteren Empowerment-Konzept diskutiert bis hin zu der Frage, ob beide nicht sogar dasselbe seien. Die deutsche Übersetzung von Empowerment lautet „Ermächtigung, Bevollmächtigung, Übertragung von Verantwortung“. Empowerment wird durch selbst- und gruppenbezogene Aktivitäten (Anstöße) realisiert. Sie bestehen vor allem in aufbauender, gegenseitig anerkennender Ermutigung, sokratischem Dialog und Handeln auf gleicher Augenhöhe und erfordern Übung und befördern Selbstwahrnehmung, Selbstkompetenz und Selbstbestimmung.
Mithilfe von Empowerment befriedigen wir die Grundbedürfnisse nach soziabler Selbstverwirklichung und solidarischer Kooperation. Die Bemächtigung erfolgt von innen nach außen. Es geht vor allem darum, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Dazu braucht es: „innere Achtsamkeit, wohlwollendes Engagement für sich und andere sowie einen sorgsamen Umgang mit der Natur.“ (Meinrad Armbruster) Bei der Gesundheitskompetenz, die anfangs noch eine Zustandsbeschreibung und Ursache für gute oder schlechte Gesundheit war, rückte im Laufe der Zeit der prozessuale Bildungsaspekt in den Fokus: Mit welchen Bildungsmethoden kann die Gesundheitskompetenz mit dem Ziel einer besseren Gesundheit gesteigert werden? In den vergangenen Jahren hat die Wissenschaft ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf das Thema der individuellen Gesundheitskompetenz gerichtet. So konnte auch gezeigt werden, dass große Teile der deutschen Bevölkerung eine geringe individuelle Gesundheitskompetenz aufweisen. Betroffen sind vor allem Menschen mit einem niedrigen sozialen Status und Personen mit Migrationsgeschichte, aber auch höhere Altersgruppen sind verstärkt betroffen. Informationen und Angebote rund um Gesundheit sind für viele schwer zu finden, zu verstehen oder anzuwenden.
Die Idee dahinter ist, dass Gesundheitseinrichtungen Menschen dabei helfen, sich im komplexen Gesundheitssystem zurechtzufinden. Von organisationsbezogene Gesundheitskompetenz wird dann gesprochen, wenn sich Gesundheitsorganisationen auf die Bedürfnisse von Patient:innen einstellen - er kann deshalb als eine Erweiterung der individuellen Gesundheitskompetenz auf Organisationen verstanden werden. In Deutschland gibt es allerdings noch wenig Erfahrung mit diesem Ansatz. Das Forschungsprojekt „Organisationsbezogene Gesundheitskompetenz in der Region Hamburg (OHL-HAM)“ setzt hier an und entwickelte einen konkreten Kriterienkatalog – ein wichtiger Beitrag für eine bessere organisationsbezogene Gesundheitskompetenz und Qualitätssicherung in der Region Hamburg und darüber hinaus.
Izumi Klockmann ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Organisationsbezogene Gesundheitskompetenz in der Region Hamburg (OHL-HAM)« am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Johanna Heeg ist Psychologin und Projektleiterin im Projekt »Organisationsbezogene Gesundheitskompetenz in der Region Hamburg (OHL-HAM)«. Olaf von dem Knesebeck leitet das Institut für Medizinische Soziologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) und ist Sprecher des »Center for Health Care Research & Public Health (CHCR & PH)« am UKE. Martin Härter ist Direktor des Instituts und der Poliklinik für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) sowie Sprecher des »Hamburger Netzwerks für Versorgungsforschung (HAM-NET)«. Daniel Lüdecke arbeitet als Projektleiter des Projekts »Organisationsbezogene Gesundheitskompetenz in der Region Hamburg (OHL-HAM)«. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medizinische Soziologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Gemeinsam haben sie das Buch „Gesundheitskompetenz urbaner Organisationen“ herausgegeben, das sich der organisationsbezogenen Gesundheitskompetenz, ihrer Perspektive sowie Erwartungen für die zukünftige Entwicklung widmet.
Das internationale Arbeitsfeld Urban/Regional/Rural Health knüpft an den gemeinsamen Ursprung von Öffentlicher Gesundheit sowie Stadt- und Regionalentwicklung an und verbindet sich mit den aktuellen Themen sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit. Die Herausgeber zeigen, dass - um den unterschiedlichen Bedürfnissen der städtischen Bevölkerung mit ihrer soziodemografischen und sozioökonomischen Vielfalt gerecht zu werden - eine entsprechend vielseitige Angebotsstruktur im Gesundheitswesen notwendig ist. Auch werden praktische Erfahrungen einer Hamburger Apotheke in der Arbeit an ihrer organisationsbezogenen Gesundheitskompetenz geschildert. Dabei werden Chancen und Entwicklungspotenziale ebenso wie die Herausforderungen bei der Weiterentwicklung beleuchtet.
Angebotsvielfalt ermöglicht es vielen Menschen, verschiedene Gesundheitsdienstleistungen in ihrer Nähe in Anspruch zu nehmen
Besseres Eingehen auf die Bedürfnisse der Patient:innen
Förderung und Stärkung der individuellen Gesundheitskompetenz
Leichterer Zugang zu den Gesundheitsdiensten und Verbesserung des Gesundheitssystems
qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung
Orientierungshilfe im komplexen Gesundheitssystem
Bündelung gesundheitsfördernder, präventiver, diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen
Förderung einer gesunden und nachhaltige Stadt- und Regionalentwicklung
Einfacher Zugang zu Gesundheitsinformationen und Dienstleistungen.
• Unübersichtlichkeit der Angebotsfülle (Überforderung der Bürger:innen)
• Zunehmende Komplexität (abhängig von der Technologisierung und Spezialisierung von Gesundheitsdienstleistungen, wodurch vor allem in urbanen Räumen eine Vielfalt von Angeboten entsteht)
• Zunehmende Spezialisierung der Medizin und der technologischen Fortschritte im Gesundheitswesen.
Der Fokus sollte deshalb auf einer multidisziplinären Zusammenarbeit in verschiedenen ambulanten und stationären Einrichtungen liegen. Das Herausgeberteam betont auch die Notwendigkeit einer Netzwerkbildung zur Sicherstellung der bestmöglichen medizinischen Versorgung sowie den Transfer wissenschaftlicher Ergebnisse in die Praxis. Es gibt zahlreiche Beispiele, wie solche Ansätze in der praktischen Umsetzung aussehen können: So hat auch Christine Bergmair mit ihrem Gesundhaus i-Tüpferl einen Ort mit vielfältiger medizinischer Expertise und Gesundheitskompetenz geschaffen, die auch integraler Bestandteil ihres Leitbilds, ihrer Strukturen und Prozesse ist. Kurze Wege unterstützen hier eine praxisübergreifende Zusammenarbeit. Angebote für Gesundheit und Prävention sind hier unter einem Dach zu finden: mit der Chance auf schnellere Diagnosen und interdisziplinär sinnvoll abgestimmte Therapien – ohne parallele Behandlungsstrategien oder Doppeluntersuchungen. Die zentrale Anlaufstelle für eine umfassende ambulante medizinische Versorgung ist bequem zu erreichen, mit Parkplätzen vor dem Haus, barrierefrei mit Aufzug und zeitgemäßen digitalen Abläufen. Interdisziplinäre Medizin und kommunale Daseinsvorsorge stehen hier auch regelmäßig im Fokus von Angeboten und Veranstaltungen.
Izumi Klockmann, Johanna Heeg, Olaf von dem Knesebeck, Martin Härter, Daniel Lüdecke (Hrsg.): Gesundheitskompetenz urbaner Organisationen. Ein praxisorientiertes Handbuch. oekom Verlag 2024.
Informationen vom Bundesgesundheitsministerium zum Thema Gesundheitskompetenz
Interdisziplinäre Medizin, Land + Innovation geht nicht? Geht doch! Interview mit Christine Bergmair
Meinrad Armbruster: Selbermachen! Mit Empowerment aus der Krise. Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015.