30-Stunden-Woche für alle!
Buchautorin Teresa Bücker fordert eine radikale Verkürzung der Arbeitszeit. Wie würde das unsere Gesellschaft und jede·n Einzelne·n von uns voranbringen?
Das Interview führte Kristina Appel
XING News: Warum gehen so viele Menschen mit dem Gefühl durchs Leben, dass ihre Zeit einfach nicht reicht?
Teresa Bücker: Das ist ein Phänomen, das mit dem Fortschritt entstanden ist. Wir sehen uns täglich mit immer mehr Möglichkeiten konfrontiert, wie wir unsere Zeit verbringen könnten. Das verstehen wir als indirekte Aufforderung, insgesamt auch mehr zu machen.
Hast Du ein Beispiel aus dem Alltag?
Ja, die längeren Öffnungszeiten bei Supermärkten. Sie sind eigentlich entstanden, um Leuten, die länger arbeiten müssen, die Möglichkeit zu geben, nach der Arbeit noch einzukaufen. Natürlich hat das gleichzeitig den Effekt, dass man eher mal Überstunden macht, weil ja noch Zeit für den Einkauf bleibt.
Warum ist das ein Problem?
Erwerbsarbeit ist wichtig, aber wir müssen anerkennen, dass es daneben Erholungszeiten und soziale Zeit gibt – und dass diese eine ebenbürtige Wertigkeit haben. Die dürfen nicht immer später in den Abend verschoben werden.
Du schreibst, der Acht-Stunden-Tag sei ein Konstruktionsfehler. Warum?
Acht Stunden erscheinen zunächst ein faires Maß zu sein: Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit, acht Stunden Schlaf. Wenn man aber berücksichtigt, wie viel Zeit Pflichtaufgaben mit Kindern, zu pflegenden Angehörigen oder einfach nur das Pendeln zur Arbeit und zurück einnehmen, dann schrumpfen die Kontingente für Freizeit und Schlaf immer weiter zusammen.
Und was ist mit der Freizeit?
Diese Zeit, in der ich mich regenerieren und stärken soll, um Erwerbs- und Sorgearbeit leisten zu können, hat wenig Anerkennung. Und in unsere „freie“ Zeit müssen alle Verpflichtungen des Alltags reinpassen: Einkäufe, Steuererklärung, Arzttermine, Wäsche waschen. Wenn du erschöpft auf dem Sofa liegst, zu müde für Spaß, dann ist deine Freizeit nicht wirklich frei.
Wir haben heute, zumindest in Deutschland, doch deutlich mehr Freizeit als die Generationen vor uns. Wie passt das zusammen?
Das stimmt. Wir Deutschen haben theoretisch viel Freizeit: im Wochendurchschnitt etwa fünf bis sechs Stunden pro Tag, sogar als Eltern. Das zeigen wissenschaftliche Erhebungen. Aber unser Zeitbudget wird von der Wissenschaft dabei in zehnminütigen Abschnitten erfasst. Also gelten auch die zehn Minuten, in denen ich auf die Bahn oder den Beginn eines Termins warte, in diesen Erhebungen als Freizeit. Die amerikanische Autorin und Journalistin Brigid Schulte nennt diese Zeitfetzen „Zeitkonfetti“. Und leider besteht unsere Freizeit zum Großteil aus Konfetti.
Seit Corona wird viel flexibler gearbeitet in Deutschland. Sorgt das nicht für Entlastung?
Gegenfrage: Wenn alle Eltern anfangen, flexibel zu arbeiten, ihre Kinder um 16 Uhr aus der Kita abholen um dann bis spät abends ihr Büro-Pensum nacharbeiten – schafft das wirklich Entlastung?
Hilft denn wenigstens das Homeoffice, sich die Zeit besser einzuteilen?
Wir wissen aus Studien, dass Homeoffice und die daraus gewonnene Selbstbestimmung den Menschen guttun. Aber wir wissen auch, dass sie aufhören, Pausen zu machen. Etwa weil Kolleg·innen fehlen, mit denen man sich auf dem Gang unterhält. Eine Untersuchung hat sogar gezeigt, dass Frauen, die zu Hause arbeiten, ihre Pausen für Familie und Hausarbeit nutzen. Männer machen dagegen vermehrt Überstunden, wenn sie zu Hause arbeiten. Hier entsteht für alle neuer Stress.
Würden wir von heute auf morgen alle Menschen in Vollzeitarbeit schicken, würde die Gesellschaft, wie wir sie kennen, zusammenbrechen.Teresa Bücker
Was bedeutet das für uns als Gesellschaft?
Würden wir von heute auf morgen alle Menschen in Vollzeitarbeit schicken, würde die Gesellschaft, wie wir sie kennen, zusammenbrechen. In vielen Regionen Deutschlands gibt es keine Kitas, die bis 18 Uhr geöffnet haben, ebenso wenig wie Nachmittagsbetreuung an Grundschulen. Die Familien leisten die Betreuung, auch die Pflege der Alten, privat.
Ist das der Grund, warum Du den Begriff des „Normalarbeitstags“ kritisierst?
Ja, denn hinter „normal“ steckt in diesem Kontext die Biografie einer männlichen Person, die bis zur Rente ohne Erwerbsunterbrechungen Vollzeit arbeiten kann. Alle anderen Lebensrealitäten sind dann nicht normal. Der Vollzeiterwerb dieser Menschen wird aber erst vom Teilzeiterwerb derer ermöglicht, die die Sorgepflichten übernehmen.
Der Fehler liegt also im System?
Der Fehler ist, dass wir als Gesellschaft ein komplexes Leben führen, wir dieser Komplexität aber nicht gerecht werden, weil die Gewichtung nicht stimmt. Die nächste Generation großzuziehen ist immerhin eine gesellschaftlich anerkannte Wirtschaftsleistung. Die Zeit, die ich meinem Arbeitgeber widme, genießt aber eine größere Anerkennung. Wir müssen beginnen, Erwerbsarbeit nicht isoliert, sondern als Teil eines gesamtgesellschaftlichen Systems zu betrachten.
Was sind deine konkreten Forderungen an die Politik?
Carearbeit muss Bestandteil der Arbeitspolitik werden. Unter den aktuellen Bedingungen werden immer weniger Menschen sich trauen, Kinder zu bekommen. Das passt nicht zusammen. Die Politik muss also dafür sorgen, dass alle Menschen ihre gesellschaftlichen Pflichten auf zumutbare Weise übernehmen können.
Das würde bedeuten, dass jede Form der Arbeitszeit auch entsprechend honoriert wird, insbesondere Carearbeit. Dafür müssten öffentliche Gelder umgeschichtet und erhöht werden – auch in Form von Steuern.
Wie soll das funktionieren?
Wir müssen die Normalbiografie neu erfinden und Sorgearbeit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe organisieren. Das wird nur funktionieren, wenn die Wochenarbeitszeit für alle auf maximal 30 Stunden verkürzt wird. Lohnausfälle würden nicht so hoch ausfallen, wenn auch Carearbeit honoriert würde. So stiege wahrscheinlich auch ihr gesellschaftlicher Wert, denn aktuell funktioniert unsere Gesellschaft so, dass Geld Dinge sichtbar macht.
Wie soll das in der Realität aussehen?
Ich finde die Lösung eigentlich naheliegend. Arbeitszeiten sind momentan sehr ungleich verteilt – zwischen den Qualifikationsstufen und zwischen Männern und Frauen. Es würde unserer Gesellschaft sehr guttun, hier Ausgleich zu schaffen. Eine allgemeine 30-Stunden-Woche würde die entlasten, die viel arbeiten, und Raum schaffen, mehr Menschen Arbeit zu ermöglichen.
Was würde sich für Unternehmen verändern?
Mitarbeitende müssten konsequenter innerhalb der vereinbarten Arbeitszeiten arbeiten. Wenn sie das nicht schaffen, ist ihr Pensum zu hoch. Das muss mit mehr Personal ausgeglichen werden, nicht mit Überstunden. Für mich bedeutet das, Unternehmen sollten sich viel mehr als Teil der Gesellschaft verstehen. Und eine nachhaltige Gesellschaft muss schonend mit ihren Arbeitskräften umgehen.
Wie sollen die Unternehmen das angesichts von Inflation und steigenden Energiekosten bezahlen?
Sie sollten es im eigenen Interesse bezahlen. Denn eine steigende Arbeitsdichte und mehr Überstunden sind gesundheitsschädlich und verursachen mehr Krankheitstage und sogar Frühverrentungen. Der Fachkräftemangel fordert jedes Unternehmen noch einmal mehr, gesunde Arbeitsbedingungen zu schaffen. Die Gehälter von Top-Managern sind in Deutschland zudem im vergangenen Jahr um 24 Prozent gestiegen. Das Geld zu nutzen, um Angestellte zu entlasten, erscheint mir nachhaltiger.
Welche Konsequenzen hätten diese Veränderungen für unsere Gesellschaft?
Eine neue Zeitpolitik braucht ein Bewusstsein dafür, dass wirklich jede·r Einzelne Zeit in Arbeit, Familie und Gesellschaft investieren muss. Wenn ich als Mann möchte, dass meine Frau – alle Frauen – gleichberechtigt leben können, dann heißt das, dass ich mehr von der unbezahlten Sorgearbeit übernehmen muss. Das ist Gleichberechtigung.
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Unsere Gesprächspartnerin
Teresa Bücker ist Publizistin und Vordenkerin im Bereich Feminismus, Arbeit und Gesellschaft. Seit 2019 ist sie Kolumnistin des SZ-Magazins. Von 2014 bis 2019 war sie Chefredakteurin des feministischen Onlinemagazins EDITION F. Als Expertin wird sie regelmäßig zu Konferenzen und in politische Talk-Sendungen geladen.
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