Alle reden von Kulturwandel – so geht er!
New Work meint vor allem: weg von altem Hierarchiedenken, hin zu neuen Organisationsstrukturen, die die Mitarbeitenden ins Zentrum stellen. Diese Betriebe machen es vor.
Die Otto Group gehört zu den größten Onlinehändlern der Welt. Über 50.000 Menschen beschäftigt der Konzern. Nicht gerade wenig, wenn es darum geht, eine über Jahrzehnte gewachsene und gelebte Unternehmenskultur vom Kopf auf die Füße zu stellen. Doch als der Konzern vor wenigen Jahren Millionenverluste in dreistelliger Höhe schrieb und klassische Maßnahmen nicht mehr halfen, das Ruder herumzureißen, wurde klar: Die Kultur muss sich ändern, will das Unternehmen im hart umkämpften Onlinehandel weiter erfolgreich sein.
Die Lern- und Experimentierräume des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS), die Betriebe darin unterstützen, neue Arbeitsweisen zu erproben, haben den Kulturwandel bei Otto sowie innovative Ansätze weiterer Unternehmen begleitet. Die Beispiele zeigen, wie vielfältig die Herangehensweisen sind, aber dass alle eines gemeinsam haben: Ohne mehr Vertrauen in die Mitarbeitenden geht es nicht.
Bei Otto lautete das ausgegebene Ziel: Abkehr von zu viel Bürokratie und Silodenken sowie Schaffung eines radikal neuen Mindsets. Das Unternehmen wollte weniger Hierarchie und traditionelle Rollen, stattdessen mutigere, schnellere Prozesse und mehr Raum für Dialog und Ideen. Um das zu erreichen, wurde zum Beispiel das Duzen eingeführt und die Feedback-Kultur intensiviert. Vor allem aber: Mitarbeitende und Führungskräfte entwickeln heute gemeinsam mit dem Vorstand neue Lösungsansätze. Mit „Workstreams“ und „Barcamps“ wird sichergestellt, dass Beschäftigte und Führungsetage in den Austausch kommen. Zudem wurden die Büros in der Hamburger Zentrale so umgebaut, dass die Direktoren nun auch räumlich in der Mitte sitzen – und damit sichtbarer sind.
Wir können nicht mehr die gleichen Muster fortsetzen, um den neuen Herausforderungen zu begegnen. Wir müssen mehr experimentieren und gucken, was passiert.Tobias Krüger, Bereichsleiter „Kulturwandel 4.0“, Otto Group
Gesteuert wird der Prozess von einem zentralen „Kulturwandel 4.0“-Team. Es begleitet die einzelnen Konzernfirmen in der Transformation und unterstützt individuelle Lösungen. Denn es gibt nicht den einen, von der Zentrale verordneten Kulturwandel für alle. Vielmehr geht es darum, Veränderungen zu schaffen, die vor Ort passen, sowie voneinander zu lernen. Im Intranet finden sich bereits über 400 Workhacks, Ideen und Methoden, wie der Kulturwandel aktiv gelebt werden kann.
Wo die Otto Group fünf Jahre nach dem Startschuss steht, erklärt Bereichsleiter Tobias Krüger im Video:
Neue Wege geht auch der Softwareriese SAP. Der Konzern hat erkannt: Der digitale Fortschritt verlangt erstens eine andere Arbeitsorganisation, wenn das Unternehmen Schritt halten will. Zweitens muss das Unternehmen für gut ausgebildete Fachkräfte attraktiv bleiben. Denn während Routinetätigkeiten zunehmend von Maschinen übernommen werden, sind es die komplexeren Arbeiten, die bei den Beschäftigten verbleiben und ein hohes Maß an Kreativität und Flexibilität erfordern. Die sogenannten Wissensarbeiter*innen wollen und müssen anders geführt werden. Der Sinn der eigenen Tätigkeit, Selbstorganisation und Mitbestimmung haben für sie einen besonderen Stellenwert.
Die Lösung bei SAP: mehr Freiraum und Verantwortung für die Beschäftigten, erprobt im „Future of Work“-Team. Hier wird zum Beispiel mit agilen Methoden wie Scrum gearbeitet, bei der sich die Mitarbeitenden ihre Aufgaben nach Kompetenzen selbst suchen und gemeinsam an Lösungen arbeiten. Manager*innen werden nicht mehr ernannt, sondern vom Team gewählt, von dem sie alle sechs Monate Feedback bekommen. Die Leitung des „Future of Work“-Bereichs wurde auf mehrere Schultern verteilt: In einem vom Team gewählten Gremium sitzen sechs Vertreter*innen des Bereichs, die mit jeweils einer Stimme gleichberechtigt entscheiden.
Am Ende des Tages geht es nicht um Kontrolle, sondern darum, die richtigen Entscheidungen im richtigen Kontext zu treffen. Da helfen mehr Köpfe.Günter Pecht-Seibert, Leiter „Future of Work“-Team, SAP
Komplett ohne formelle Hierarchie geht es bei einem anderen Softwareunternehmen zu: beim Mittelständler SEIBERT MEDIA aus Wiesbaden. Die rund 140 Angestellten arbeiten in interdisziplinären Teams zusammen. Jedes davon verfügt über das notwendige Know-how und die personellen Ressourcen, seine Aufgaben eigenständig und selbstorganisiert zu bearbeiten. Das Unternehmen vertraut und baut darauf, dass sich Führung und Entscheidungskompetenz je nach Aufgabenstellung und Expertise ergeben.
Ein heikler Punkt dabei immer wieder: Wie kommt man zu Entscheidungen ohne Hierarchien? Und wie stellt man sicher, dass sich die meinungsstarken Personen nicht immer gegen stillere Kolleg*innen durchsetzen? Die Lösung hier: das „Wer darf was?-Board“, ein digitales Schwarzes Brett, das an beispielhaften Arbeitssituationen zeigt, wer was entscheiden darf, wer wann beratend hinzugezogen werden muss und wer wann welche Verantwortung trägt. Das Ergebnis: Entscheidungen werden, abhängig von Situation und Fachkompetenz, von unterschiedlichen Mitarbeitenden getroffen.
Auf Führungskräfte verzichtet auch die Onlineplattform Traum-Ferienwohnungen.de aus Bremen. Die Neuorganisation wurde dabei strukturiert angegangen: Die Geschäftsführung stellte sich gemeinsam mit einem externen Coach und einem demokratisch gewählten Kernteam aus sechs Beschäftigten die Frage, wie man die Arbeit neu gestalten könnte. Das Ergebnis: weg mit Hierarchien und Abteilungen, stattdessen auch hier funktionsübergreifende Teams, die jeweils alle Kompetenzen – von der Entwicklung über das Marketing bis hin zum Vertrieb – in sich vereinen und autonom verantwortlich sind.
Wir versuchen durch diese Strukturen, dass Verantwortung bei dem liegt, der am besten entscheiden kann.Lars Meyer zu Westrup, Mitarbeiter Vertrieb, Traum-Ferienwohnungen.de
Wie die Beschäftigten mit ihrer Verantwortung umgehen und wie man zu Entscheidungen kommt, erläutert Lars Meyer zu Westrup von Traum-Ferienwohnungen.de im Video:
Also alles ganz einfach? Nicht ganz. Eine entscheidende Bedingung muss erfüllt sein: Der Wille zum Wandel in einem Unternehmen muss von oben kommen. Oder wie Tobias Krüger von der Otto Group sagt: „Die höchste hierarchische Macht muss es wollen. Sie muss eine innere Überzeugung haben, dass man den Wandel möchte und braucht. Sonst braucht man gar nicht erst anzufangen.“ Mit anderen Worten: Wenn der Vorstand oder die Geschäftsführung nicht die Notwendigkeit zur Veränderung erkennt und nicht dazu bereit ist, eigene Strukturen zu überdenken, ist der Prozess zum Scheitern verurteilt. Vor allem aber: Der Prozess hat kein definiertes Ende. Kulturwandel ist kein Projekt mit einer klaren Zielvorgabe, sondern ein fortwährender Lernprozess, der sich konstant weiterentwickelt.
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Service-Info: Mit dem Webportal experimentierräume.de bietet das BMAS eine Plattform, auf der Unternehmen und Verwaltungen durch inspirierende Beispiele Impulse erhalten, um neue Wege in Richtung Arbeitswelt der Zukunft zu gehen. In einer regelmäßigen Artikelreihe werden ausgesuchte Beispiele der Experimentierräume hier vorgestellt.