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Orts- und zeitunabhängiges Arbeiten: Wie viel Flexibilität brauchen wir?

Die Coronakrise erfordert von zahlreichen Unternehmen, einen Großteil der Arbeiten ins Home-Office zu verlagern – ein ungeahnter Schub für das von Ort und Zeit unabhängige Arbeiten. Doch flexible Arbeitsformen sind mehr als der Heimarbeitsplatz: Es braucht eine Kultur des Vertrauens und die Einbeziehung der Mitarbeiterwünsche. Und ja: Auch Grenzen der Flexibilität sind wichtig.

Plötzlich befinden sich Unternehmen und Beschäftigte in einem globalen Experimentierraum: Menschen auf der ganzen Welt sind vom sogenannten "Lockdown" betroffen, um die Verbreitung des neuartigen Coronavirus einzudämmen. Für die Arbeitswelt heißt das: Wer kann, arbeitet im Home-Office. Die digitale Vernetzung macht es möglich.

Dabei ist das Arbeiten von zu Hause vielen Beschäftigten bereits vertraut, gerade in sogenannten Wissensberufen – von der Softwareentwicklerin über den Ingenieur bis zur Designerin. Flexibles Arbeiten umfasst jedoch mehr als das Home-Office: „Es gibt unzählige Möglichkeiten, die Arbeitszeiten in Unternehmen flexibel zu gestalten. Dauer, Ort und Lage der Arbeitszeit können variieren“, erklärt Prof. Dr. Stowasser, Direktor des Instituts für angewandte Arbeitswissenschaft.

Es gibt nicht das Arbeitszeitsystem, das für alle Unternehmen gültig ist. Jedes Unternehmen muss sein maßgeschneidertes Instrument finden.
Prof. Dr. Sascha Stowasser

Wie Betriebe die für sie richtige Lösung finden, beantwortet Prof. Dr. Sascha Stowasser im Video:

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) unterstützt mit seinen „Lern- und Experimentierräumen“ Unternehmen darin, neues Arbeiten zu erproben. Zahlreiche Beispiele zeigen, welche Wege Betriebe beim flexiblen Arbeiten bereits gehen:

Bei der Deutschen Kreditbank (DKB) wurde das ortsflexible Arbeiten erst in Pilotprojekten erprobt, dann evaluiert und letztlich mit einer Betriebsvereinbarung unternehmensweit eingeführt. Alle Mitarbeitenden haben nun Anspruch darauf, wenn die Tätigkeit es zulässt. Auch beim IT-Unternehmen Cisco gilt: Wer nicht will, muss nicht ins Büro. Teambesprechungen finden vorwiegend per Video statt. Ebenso in einem kleinen Handwerksbetrieb ist Flexibilität möglich: Die Bäckerei Leonhardt im baden-württembergischen Bretten führte eine flexible Schichteinsatzplanung ein. Mithilfe externer Beratung entstand ein rotierendes System, in dem gestaffelte Schichten und freie Tage kontinuierlich abgewechselt und wöchentlich neu geplant werden.

Warum das Ganze? Die Bäckerei hatte Schwierigkeiten, Auszubildende für die Produktion zu finden. Unattraktive Arbeitszeiten, regelmäßige Überstunden sowie zu kurze Regenerationsphasen waren gesundheitlich belastend. Dabei steht der Kleinbetrieb stellvertretend für Unternehmen jeder Größe, die Fachkräfteengpässe und veränderte Mitarbeiterwünsche spüren. Das bestätigt auch Anna Süster Volquardsen, Beraterin für New Work:

Es drängen neue Werte in unsere Arbeitswelt: Kooperation anstelle von Konkurrenz, Zeit für Familie, Freunde sowie für individuelle Projekte werden immer wichtiger.
Anna Süster Volquardsen

„Vielen geht es eher darum, das eigene Arbeitsleben flexibel gestalten zu können – abhängig von Lebensphase und individuellen Werten und Bedürfnissen. Entscheidend dabei: Immer mehr Menschen artikulieren ihre Ansprüche an die Arbeitswelt. Und immer mehr Firmen verstehen, dass sie sich wandeln müssen."

Dazu gehört auch der Softwarekonzern Microsoft, der schon 1998 in Deutschland die Vertrauensarbeitszeit eingeführt hat – ein Vorreiter. Bei diesem Modell wird lediglich der wöchentliche oder monatliche Arbeitsumfang festgelegt, während sich die Mitarbeitenden ihre tägliche Arbeitszeit weitgehend selbst einteilen. Später kam eine Betriebsvereinbarung zum Vertrauensarbeitsort hinzu. Um Mitarbeitende dennoch dazu zu motivieren, ins Büro zu kommen, wurden „Smart Workspaces“ eingerichtet. Hier können die Beschäftigten ihren Arbeitsplatz frei wählen. Sie finden leise Zonen zum konzentrierten Arbeiten genauso wie laute Zonen für Workshops oder Teambuilding.

Einen anderen Weg geht die Darmstädter Kommunikationsagentur quäntchen + glück. Hier gilt Anwesenheitspflicht – allerdings nur montags. Nach der Devise „Montag ist Schontag“ ist dieser Tag allein internem Austausch und der Wochenplanung im Team vorbehalten. Kundinnen und Kunden erreichen nur den Anrufbeantworter und automatische Mailresponder.

Beim Werkzeugmaschinen-Hersteller Trumpf können die Beschäftigten den Umfang ihrer Wochenarbeitszeit individuell wählen und in Absprache mit ihren Vorgesetzten alle zwei Jahre neu aushandeln. Beraterin Volquardsen sieht darin den richtigen Weg: „In einer modernen Arbeitszeitgestaltung müssen 20, 24 oder 32 Wochenarbeitsstunden – oder auch Jobsharing – genauso normal sein wie 40 Wochenarbeitsstunden. Dies würde den sich wandelnden Ansprüchen der arbeitenden Bevölkerung entgegenkommen.“

Dennoch gilt: Orts- und zeitflexibles Arbeiten ist kein Selbstläufer, sondern verlangen Beschäftigten und Führungskräften einiges ab. „Neues Arbeiten hat eine Menge Vorteile, aber wir unterschätzen noch die Nachteile, die es mit sich bringen kann“, erklärt Markus Albers, geschäftsführender Gesellschafter der Innovationsagentur Rethink. Dazu gehöre, auch nach Feierabend und am Wochenende für den Job erreichbar zu sein. Die Auswirkungen: Schlafprobleme in weiten Teilen der Gesellschaft und eine zunehmende Zahl psychischer Erkrankungen.

Wie Firmen der „Always-on-Kultur“ entgegentreten können, erläutert Markus Albers im Video:

Auch für Dr. Johann Weichbrodt, der an der Fachhochschule Nordwestschweiz zu flexibler Arbeit forscht, ist klar: „Für Arbeitnehmende bedeutet mehr Flexibilität auch mehr Verantwortung. Menschen müssen neu lernen, individuelle Grenzen zu ziehen und selber zu definieren, wann Feierabend ist.“ Gleichzeitig braucht es eine Kultur des Vertrauens:

Viele Führungskräfte befürchten einen Kontrollverlust im Sinne von ‚Wenn ich meine Leute nicht mehr jeden Tag sehe, woher soll ich dann wissen, ob sie auch arbeiten‘.
Dr. Johann Weichbrodt

Doch auch bei den Beschäftigten gibt es Vorbehalte: „Vertrauensarbeitszeit wird als ‚Mogelpackung‘ für unbezahlte Überstunden wahrgenommen“, weiß Dr. Josephine Hofmann vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation, das einige der BMAS-Experimentierräume wissenschaftlich begleitet.

Hier können kreative Lösungen helfen wie bei der AWO Unterfranken: Alle Arbeitsstunden werden laufend in einem Arbeitszeitkonto erfasst und mit einem Ampelsystem verbunden. Übersteigt die Arbeitszeit einen bestimmten Punkt, springt die Ampel auf Gelb und signalisiert damit sowohl der dienstplanenden Person als auch der bzw. dem Beschäftigten, dass auf den Stundenstand geachtet werden muss. Rutscht die Ampel ins Rote, droht akute Überlastung, sodass Schutzmechanismen greifen.

Oder wie Markus Albers von Rethink sagt: „Der Einzelne kann durch neues Arbeiten produktiver, effizienter und wahrscheinlich auch glücklicher werden. Wir müssen es nur richtig machen.“ Die Zahlen geben ihm Recht: Die Evaluation des Experimentierraums der DKB hat gezeigt, dass sich das flexible Arbeiten positiv auf Mitarbeiterzufriedenheit, Arbeitgeberattraktivität und Produktivität ausgewirkt hat. Und bei Trumpf hat sich die Anzahl an Bewerbungen seit Einführung der lebensphasenorientierten Arbeitszeit verdreifacht.

Service-Info: Mit dem Webportal experimentierräume.de bietet das BMAS eine Plattform, auf der Unternehmen und Verwaltungen durch inspirierende Beispiele Impulse erhalten, um neue Wege in Richtung Arbeitswelt der Zukunft zu gehen. In einer regelmäßigen Artikelreihe werden ausgesuchte Beispiele der Experimentierräume hier vorgestellt.

NWX – New Work News schreibt über Alles zur Zukunft der Arbeit

Alles zur Zukunft der Arbeit: Auf dieser News-Seite finden alle New Work-Interessierten multimedialen Content rund um das Thema. Neben Experten-Interviews, Debatten, Studien, Tipps und Best Practices, erwarten die Leser auch Video- und Podcastformate. Und natürlich ein Überblick unserer gesamten New Work Events, die mehrmals im Jahr im gesamten deutschsprachigen Raum stattfinden. Weitere spannende Inhalte zum Thema New Work finden Sie auf: nwx.new-work.se

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