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Das Beste zweier Welten: Leben und Arbeiten im wirtschaftsnahen Umland

Immer mehr Menschen zog es in Kleinstädte oder in ein Dorf. Das belegen auch repräsentative Umfragen wie die des ZDF: 39 Prozent der Befragten wollen im ländlichen Umfeld leben, nur 16 Prozent sehnen sich nach einem Leben in der Großstadt. Viele Argumente, die einst für die Stadt sprachen (Näher am „Geschehen“, kurze Wege), gehen damit verloren. Heute dominieren in vielen Städten steigende Mietpreise, Umweltbelastungen und Enge. In ihrer Kolumne „Verlasst die Städte!“ schrieb die Erfolgsautorin Charlotte Roche 2018, dass Städte „Epizentren der Depression“ sind. Die Covid-19-Pandemie hat dies noch einmal verstärkt. Neu ist diese Entwicklung allerdings nicht: So imaginierte schon der Dichter Hesiod, der im 7. Jahrhundert v. Chr. Lebte, ein ländlich orientiertes „Goldenes Zeitalter“. Theokrit zeichnete etwa 500 Jahre später mit seinen Hirtengesängen („eidylla“) ein harmonisches Leben an ländlichen Orten. Diese Idylle war nicht nur in Dichtungen präsent – sie wurde (zumindest von den Eliten) auch gelebt. Einen Aufschwung erlebte die Landfreude dann im 18. Jahrhundert. Goethe schrieb, dass sich die „idyllische Tendenz“, die mit dem Wandel der Naturvorstellungen zusammenhing, „unendlich“ verbreitete. Im 19. Jahrhundert ging der Rückzug in die Natur zugleich mit einer Einkehr ins Private einher. Auch in Kinderbüchern wie denen von Astrid Lindgren wird die Idylle (Bullerbü) als Ort der inneren Einkehr, der sozialen Nähe, des Aufgehobenseins in einer unübersichtlichen Welt dargestellt. Landidyllen finden sich auch in literarischen Texten von Cervantes, Friedrich Hebbel, Knut Hamsun sowie in zeitgenössischen Texten, (Juli Zehs „Unter Leuten“, Dörthe Hansens „Altes Land“, Robert Seethalers „Ein ganzes Leben“). Die Literatur der Gegenwart zeigt die Ländlichkeit allerdings in Verbindung mit gestaltenden Akteuren, nicht mehr als reines Idyll, in dem es ausschließlich um Selbstfindung in der Stille und die Rückbesinnung auf die Natur geht.

Dennoch kann die „Landlust“ von heute auch als Gegenbewegung zur Beschleunigung gelesen werden. Die Sehnsucht nach Nähe, Stabilität und Gemeinschaft ist nicht verschwunden. Damit verbunden ist ein unmittelbares Erleben, zum Beispiel der Rhythmus der Jahreszeiten oder der Bezug zum Haptischen, die Liebe zum Selbstkochen und -backen, Säen, Ernten, Bauen und Reparieren. Mit der Selbsttätigkeit ist auch das Gefühl verbunden, wieder mehr Kontrolle in einer komplexen und krisengeprägten Welt zu haben. „Gutes Leben auf dem Land bedeutet, die Möglichkeit zu haben, einigermaßen selbstständig in einem Nah-Raum zu leben, der als schön, lebbar, naturnah verstanden wird“, sagt Prof. Dr. Werner Nell. Er ist Vergleichender Literaturwissenschaftler an der Martin Luther Universität Halle-Wittenberg und Sprecher des Forschungsprojekts Experimentierfeld Dorf.

Diesen Fragen widmete sich der von ihm und Marc Weiland herausgegebene Sammelband „Gutes Leben auf dem Land?“, die zugleich dazu einladen, das Thema weiterzudenken:

• In welchen historischen und soziokulturellen Kontexten sind Imaginationen und Narrative des guten ländlichen Lebens zu finden, und in welcher Tradition stehen sie?

• Welche Modelle eines gelingenden Zusammenlebens oder adäquater Mensch-Natur-Verhältnisse werden dabei entworfen und worin finden sie ihre Basis?

• Welche Verschränkungen lassen sich dabei zwischen Imagination und konkreter Lebenswelt und Lebensführung beobachten?

Diese und viele weitere Fragen werden anhand verschiedener historischer und aktueller Repräsentationen und Imaginationen des Ländlichen und Dörflichen in Literaturen und Künsten, Filmen und Fotografien, Philosophien und Popkulturen, Architekturen und Entwürfen, wissenschaftlichen Analysen und politischen Debatten sowie seinen konkreten Formen und Gestalten in der Realität aus literatur-, film- und medienwissenschaftlichen, soziologischen, ethnologischen und geographischen sowie historischen und (landschafts-)architektonischen Perspektiven erörtert. Es geht aber auch um einfache Fragen wie diese: Was macht mein Leben lebenswert? Was ist ein gelungenes Leben? Aristoteles (384-322 v. Chr.) behauptete, dass es einer Haltung zugrunde liegt: Glücklich ist, wer ein Mittelmaß findet: „Von den Extremen ist das eine schlimmer, als das andere.“ Schon vor als 400 Jahren vor Christus begann Sokrates damit, Fragen nach dem guten Leben zu stellen. Für die antiken Griechen hatten sie einen so hohen Stellenwert, dass sie eine eigene Disziplin daraus gemacht haben: Die Teleologie ist die Lehre vom höchsten Ziel oder Gut. Der griechische Philosoph Platon stellte sie im vierten Jahrhundert v.Chr. in den Mittelpunkt seines Denkens und glaubte daran, dass es das „Streben nach dem Guten“ sei, was den Menschen zum Handeln antreibt. Das Streben des Einzelnen nach dem „Bestmöglichen“ stellte einen wichtigen Beitrag für die Gemeinschaft dar und trug zu einer übergeordneten Vorstellung eines guten (sinnhaft und erfüllenden) Lebens bei.

Es geht heute nicht darum, Stadt und Land einfach zu tauschen, sondern den richtigen Mix für das eigene Leben zu finden und das Beste aus beiden Welten zu verschmelzen. Was den Rückzug der Städter in den ländlichen Raum angeht, sind einige ambivalent eingestellt. „Ich habe das vor einigen Jahren selbst so gemacht, als ich von Stuttgart-West hier nach Großbettlingen gezogen bin. Man ist in der Stadt an Selbstverständlichkeiten gewöhnt, die es so nicht auf dem Land gibt. Das beginnt mit der Erreichbarkeit von Lebensmittelläden (falls es überhaupt welche gibt) zu Fuß oder mit dem ÖPNV und geht weiter über Kulturangebote“, sagt Michael Jahn. Der Nachhaltigkeitsexperte verweist auch darauf, dass beim derzeitigen Bauwahn auch zu beachten gilt, dass es die Struktur der Ortschaften zerstört. „Neue Baugebiete sind selten in den Ort eingebunden, so entwickeln sich parallele Siedlungen. Hinzu kommen verschiedene Altersstrukturen. Junge Familien mit Kindern leben in den neuen Gebieten, ältere, deren Kinder bereits erwachsen sind, leben in den älteren. Dort gibt es dann kaum Durchmischung. Das verstärkt die ohnehin schon schwierige Situation zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen. Begegnungsstätten sind maximal die Vereine, auch hier treffen sich ähnliche Altersstrukturen aufgrund der Kinder oder die Kirchen (eher weniger). Hier sind die Kommunen und auch der/die Einzelne gefragt, Angebote zu schaffen und zu nutzen. Ansonsten exportiert man die gesellschaftlichen Nachteile des Stadtlebens auf das Land“.

Auch achten viele darauf, dass alles, was sie benötigen, in der Region erhältlich ist. Als Ingredienzen des Idyllischen gelten heute vor allem regionale Produkte. Auch achten immer mehr darauf, ortsansässige Handwerker, Händler und Produzenten zu unterstützen. Dazu gehört auch das Ehepaar Andrea und Uwe Lachermund. Die Museumspädagogin und der IT-Leiter legten Wert darauf, dass ihre Küche regional zu kaufen. Nur 350 Meter von ihrem Haus entfernt befindet sich das neue Werk von Häcker Küchen in Venne. Die Region am Fuße des Wiehengebirges ist ihnen ans Herz gewachsen. In ihrem Haus wohnen sie seit 16 Jahren – in dieser Zeit verschafften sie sich auch eine gute Marktübersicht über Händler in der Region. Ein Küchenstudio in ihrem Nachbarort überzeugte sie durch kompetente Beratung und die Produktqualität. Als sie dann erfuhren, dass ihre künftige Küche direkt vor der Haustür im neuen Werk des Familienunternehmens Häcker in Venne (seit 1972 ein Ortsteil der Gemeinde Ostercappeln im Landkreis Osnabrück) gefertigt wird, war für sie das „gesamte Paket“ da. Dabei waren sie zunächst gar nicht von der Ansiedlung des Küchenherstellers im Ländlichen begeistert. Das Werk im Dorf wurde von vielen zunächst als störend empfunden – doch das änderte sich in der Bauphase, als beispielsweise der Wall für die Begrünung angelegt wurde, der früher fertig war als die Werkshalle. Dem Architekten gelang es, das 580 Meter lange Gebäude nachhaltig in die Landschaft einzufügen und die Anwohner vom Konzept zu überzeugen. Der Hauptsitz des inhabergeführten Familienunternehmens, das sich im Bereich Ökologie und Biodiversität in besonderer Weise engagiert, liegt in Rödinghausen, einer Gemeinde im Nordosten von Nordrhein-Westfalen, rund 30 Kilometer nördlich von Bielefeld. Mit knapp 10.000 Einwohnern ist Rödinghausen die kleinste Gemeinde im ostwestfälischen Kreis Herford. Hier werden seit 1938 moderne Einbauküchen produziert. 2020 erwirtschaftete das Unternehmen rund 650 Millionen Euro.

Auch viele Unternehmen, beispielsweise aus dem Maschinen- und Anlagenbau sind im ländlichen Raum angesiedelt (z.B. Maxon Motors in Sachseln/CH und Multivac Verpackungsmaschinen Wolfertschwenden/Allgäu). Fachkräfte und Auszubildende werden hier nicht wie andernorts händeringend gesucht – sie bewerben sich in Eigeninitiative, weil sie hier etwas finden, das sie glücklich macht: einen Beruf, der sie ausfüllt in einem naturnahen, motivierenden Umfeld und das gute Leben in einer ländlichen Region. Auch viele kleinere Unternehmen, vor allem Nachhaltigkeitspioniere wie VAUDE oder memo befinden sich außerhalb der Stadt im Grünen. Den Mitarbeitenden wird eine nachhaltige Verschmelzung von Arbeits- und Lebensqualität und gleichzeitig ein respekt- und verantwortungsvoller Umgang mit der Natur geboten. 1995 wurde der Unternehmensstandort des Ökoversenders vom Würzburger Stadtzentrum in das Gewerbegebiet der kleinen Gemeinde Greußenheim, etwa 15 km westlich von Würzburg, in der Nähe der Bundesautobahnen A3 und A7, auf die „grüne Wiese“ verlegt.

„Dort hat sich damals die Gelegenheit geboten, einen unseren Kriterien entsprechenden Standort aufzubauen, und wir konnten uns sogar die wunderbar passende Adresse ‚Am Biotop‘ aussuchen, da das Firmengelände an ein Biotop angrenzt. Auch für unsere Mitarbeitenden, die überwiegend aus dem Landkreis Würzburg kommen, ist er gut zu erreichen - allerdings weniger mit dem ÖPNV. Arbeiten im Grünen bedeutet bei uns auch, mit wenigen Schritten mitten in der Natur zu sein, vor allem in unserem naturnah angelegten Garten, der vor allem in der warmen Jahreszeit viel Raum für kurze Erholungspausen bietet und den auch die Kinder der Mitarbeitenden, die in den Ferien bei uns betreut werden, in vollen Zügen genießen. Allerdings bietet der Standort auf dem Land natürlich auch Nachteile. Unsere Mitarbeitenden müssen sich entweder etwas zum Essen mitbringen oder sich selbst etwas zubereiten. Deshalb bietet das Unternehmen vier Mal pro Woche ein warmes Mittagessen an, das wir von einer sozialen Einrichtung für benachteiligte Jugendliche, die zu Hilfsköch*innen ausgebildet werden, an und bezuschusst dieses auch“, sagt Claudia Silber, die hier die Unternehmenskommunikation leitet. Ein in der Nähe befindlicher Naturgarten ist vom Cafeteriabereich direkt einsehbar. Er inspiriert und schafft Möglichkeiten zur Entspannung - auch während des Arbeitstages. Ein Teil der Wiese wird in der warmen Jahreszeit nicht gemäht, um Insekten wertvollen Lebens- und Nahrungsraum zu geben. Bei schönem Wetter steht den Mitarbeitern in den Pausen eine bestuhlte Terrasse zum Entspannen und eine große Rasenfläche für sportliche Aktivitäten zur Verfügung. An kalten oder regnerischen Tagen werden die Pausen in den Wintergarten verlagert. „Wenn die Mitarbeiter aus dem Fenster blicken, sehen sie zu jeder Jahreszeit eine idyllische Landschaft“, sagt Claudia Silber. Die Bilder des guten Lebens sind nicht verschwunden, sondern gegenwärtig.

  • Groß im Kommen: Karriere in Kleinstädten

  • Kein Klischee: Heimat als unverzichtbarer Wert

  • Lars Breder: Retten statt reden. Was Unternehmen tun, die aus Tradition verantwortungsvoll sind. In: Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. Hg. von Alexandra Hildebrandt. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2020.

  • Werner Nell, Marc Weiland (Hg.): Gutes Leben auf dem Land? Imaginationen uund Projektionen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Transcript Verlag, Bielefeld 2021.

  • Buy local: Die Traumküche von nebenan. In: WORK. Hg. von Häcker Küchen. Nr. 21 (Juni 2021), S. 8-11.

  • Daniel Dettling: Stadt, Land, Flucht? In: DIE ZEIT (24.5.2018), S. 27.

  • Max Scharnigg: Das gelobte Land. In: Süddeutsche Zeitung (11./12.8.2021), S. 45.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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