Echt jetzt? Berufliche Neuorientierung in der Corona-Krise
Viele Arbeitnehmer stellen aktuell ihre berufliche Zukunft auf den Prüfstand und denken sogar über einen Jobwechsel nach. Trotz Wirtschaftskrise und Kurzarbeit auf Rekordniveau. Wie passt das jetzt zusammen?
Wir stecken inmitten einer der weltweit größten Wirtschaftskrisen. Schätzungen gehen davon aus, dass sechs bis acht Millionen Menschen in Deutschland in Kurzarbeit sind oder in den nächsten Wochen gehen werden, die Bundesagentur für Arbeit rechnet sogar mit 10,1 Millionen Arbeitnehmern, für die bereits mögliche Kurzarbeit angezeigt wurde. Große Teile der Wirtschaft liegen brach und nahezu sicher ist, dass sie sich nur sehr langsam von diesem Not-Aus-Schock wieder erholen wird. Kontaktverbote und verordnetes Homeoffice mit Schule, Familie und Beruf unter einem Dach bestimmen für viele von uns seit Wochen das Arbeits- und Privatleben. Ganze Branchen fordern Staatshilfen, der Einzelhandel erwartet bis zu 50.000 Insolvenzen, bei den Hotels und Gaststätten sollen 70.000 Unternehmen vor der Zahlungsunfähigkeit stehen.
Ungewissheit, Unsicherheit und Vagheit soweit das Auge reicht. Nicht wissend, was nächste Woche, in einem Monat oder einem halben Jahr sein wird. Hätte mir jemand dieses Szenario vor Ausbruch der Corona-Krise geschildert, hätte ich mir die Welt, wie wir sie heute erleben, vor meinem geistigen Auge nicht im Traum vorstellen können. Wir alle haben in den letzten Wochen am eigenen Leib erfahren, wie rasant, einschneidend, bedrückend und Angst einflößend Veränderung sein kann. Eine Veränderung von außen induziert, zu deren ohnmächtigen Beobachtern viele von uns der Medienberichte und Berechnungen müde wir inzwischen geworden sind. Doch auch eine Veränderung, die - wie ich finde - wir als Gesellschaft bisher in weiten Teilen gut gemeistert haben.
Coaching zur beruflichen Neuorientierung - Jetzt?
Kaum zu glauben, aber wahr. Seit Ostermontag werde ich immer häufiger mit neuen Anfragen für Coachings zur beruflichen Neuorientierung kontaktiert. Ja, Sie haben richtig gelesen. Angestellte, die sich genau jetzt in der Krise überlegen, ihrem Arbeitgeber den Rücken zu kehren. Menschen, die mit dem Gedanken spielen, ihre bisher sicher anmutenden Jobs freiwillig an den Nagel zu hängen und nach etwas suchen, von dem sie heute nicht wissen, was es irgendwann sein kann. „Jetzt ist die richtige Zeit, um über meine berufliche Zukunft nachzudenken“, so steht es in vielen Mails, die ich in den vergangenen drei Wochen erhalten habe.
Aus den letzten 9 Jahren meiner Selbständigkeit kenne ich das typische Saisongeschäft im Karriere-Coaching: Die ersten Wochen eines Jahres spülen mir dank guter Neujahrsvorsätze traditionell viele Anfragen ins Postfach. Genauso jeweils die zwei-drei Wochen nach den Schulferien – zu Ostern, im Sommer und Herbst. Und Anfang Dezember möchten all jene möglichst schnell noch mit dem Coaching-Prozess starten, um ihren Hintern im wieder überraschend schneller als gedacht abgelaufenen Jahr fürs gute Gewissen doch noch hochzubekommen. Ich habe mich daran gewöhnt, dass es stressige Zeiten gibt, in denen mein Kalender Montag bis Freitag mit Terminen eng gefüllt ist und ich am Wochenende Texte wie diesen schreibe. Genauso weiß ich, dass ich in den Wochen vor oder in den Ferien nicht in Panik verfallen muss, wenn in einer Woche exakt null Anfragen eintrudeln.
Doch das, was ich in den letzten Wochen erlebt habe, hat mich überrascht. Damit hatte ich so nicht gerechnet. Ich beschwere mich natürlich nicht und erwarte von Ihnen auch kein Mitleid ;-), doch im Leben hätte ich nicht vorhergesagt, dass Jobwechsel und berufliche Neuorientierung Themen sind, die Menschen in dieser Zeit der Krise und maximalen Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt beschäftigen.
Schließlich erreichen mich ebenfalls die Mails besorgter Bewerber aktuell auf Jobsuche mit ihren Fragen, was sich durch Corona verändert und wie hoch die Chancen überhaupt noch sind, dass sie in den nächsten Monaten einen neuen Arbeitsvertrag unterschreiben werden. Meine Antworten auf die häufigsten Fragen finden Sie übrigens hier.
Im Gespräch mit all jenen, die sich nun mit etwas Abstand und im Homeoffice zur Ruhe gekommen freiwillig selbstbestimmt die Zeit nehmen, sich gedanklich mit ihrer beruflichen Zukunft zu beschäftigen, erfahre ich, was den Ausschlag dafür gegeben hat, ausgerechnet jetzt die Zügel ihrer beruflichen Entwicklung in die Hand zu nehmen: Einige erklären mir, dass sie nach mehreren Wochen von Auszeit und Homeoffice nun wieder – oft nur tageweise im Wechsel mit Kollegen – zurück in ihre Büros dürfen und von der Wirklichkeit der Vergangenheit eingeholt werden. Irgendetwas ist jetzt anders. Es geht nicht mehr, das Gewohnte mutet fremd und gestrig an. Weiter wie bisher, als sei nichts geschehen – es fühlt sich merkwürdig unpassend an.
Für die meisten meiner Klienten mit Anliegen zur beruflichen Neuorientierung ist seit Jahren klar, dass es schon lange nicht mehr passt. Doch die dufte Stimmung im Team, das lieb gewonnen gute Gehalt oder einfach nur die Routine des bunten Allerleis im Tagesgeschäft haben sie sicher ausharren und kraftvoll aushalten lassen. Es ist die noch so niedrige Wahrscheinlichkeit für irgendeine Besserung, der Funke Hoffnung für mehr Abwechslung und Sinn im Job oder die Aussicht, doch irgendwann die Wertschätzung eines neuen Chefs zu spüren, was viele Angestellte manchmal über Jahre abhält, etwas zu verändern. Und wenn spätestens Freunde und Familie mit „Sei doch glücklich mit dem, was Du hast!“ oder „Bei einem anderen Arbeitgeber ist es auch nicht besser“ die besten Totschlagargumente für Veränderungen liefern, hat sich das brodelnde Wasser im wieder einmal fast übergelaufenen Fass schnell beruhigt.
In der Krise erkennen wir, was uns wirklich wichtig ist
Ich erlebe es zudem immer wieder, dass Umbruchsituationen im „Doppelpack“ daherkommen. Die Kündigung des Jobs gleichzeitig mit dem Ende einer privaten Beziehung. Der Abbruch eines Studiums in Verbindung mit der Erkrankung eines nahen Familienangehörigen. Der Wechsel des Arbeitgebers oder das bewusste Downshifting nach der Geburt eines Kindes. Es sind immer Phasen in unserem Leben, in denen uns sehr bewusst wird, was uns wirklich wichtig ist.
Zeiten, in denen wir am eigenen Körper erfahren, welche persönlichen Werte und Ziele uns antreiben sowie unser Denken und Handeln prägen. Wir bemerken, was uns Kraft raubt und Energie gibt. Es sind Ereignisse, die uns aus dem Tagesgeschäft sowie unserem sicher funktionierenden Automatikmodus reißen und uns ins Denken bringen. Wir reflektieren unser Leben und schauen bewusst in die Zukunft. Auch die Corona-Krise lässt uns unserer Grundbedürfnisse und existenziellen Werte bewusst werden. Und sie zwingt uns dazu, sich mit uns selbst sowie den möglichen Folgen für unsere persönliche und berufliche Zukunft zu beschäftigen.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen ergangen ist, aber genau dies habe ich in den ersten Tagen der Krise selbst gespürt. Ich habe mir Sorgen um meine sowie die Gesundheit meiner Lieben gemacht. Ich war extrem verunsichert und habe alles in den Medien verfolgt, was ich aufschnappen konnte. Mit Verkündung der Kontaktsperre Mitte März habe ich entschieden, mein Büro zu schließen und bis auf wenige Video-Calls fast alle Termine verschoben. Ich habe mich so verunsichert gefragt, ob auch ich mein Geschäftsmodell jetzt schnell mal eben auf „Online“ umstellen muss – wie ich es bei einigen Kolleginnen und Kollegen aus der Ferne beobachtet habe. Und da wir zuhause nicht gehamstert haben, hat mich zu allem Überfluss die fast schon panische Suche nach Klopapier in den ersten Tagen echt verrückt gemacht. Danke nochmal, lieber Oliver, für die Leihgabe :) Irre, wenn ich heute so darüber nachdenke.
„Es ist mir wichtig, mit Coaching-Klienten in Zukunft weiter persönlich in meinem Büro zu arbeiten.“
Dieser Satz ging mir eines Tages durch den Kopf und mir war plötzlich klar, dass ich jetzt in der Krise nicht zu viel Energie dafür aufwenden werde, um schnell neue Online-Angebote aus dem Boden zu stampfen, mich Tag und Nacht mit Zoom & Co. zu beschäftigen und fix eine riesige Facebook- und Insta-Community aufzubauen, die ich durch reißerische Sales-Funnel schleusen und ihnen auf schnell gebastelten Landing-Pages das Geld aus der Tasche ziehen kann. Das bin ich nicht und so möchte ich nicht arbeiten - daran wird diese Krise nichts verändern.
„Klarheit schafft Sicherheit“, sage ich häufig zu meinen Klienten im Coaching – und habe es selbst ab diesem Moment gespürt. Ich hatte für mich in meiner persönlichen und auch finanziellen Situation eine Entscheidung getroffen, die sich gut anfühlte und ab sofort war ich deutlich entspannter. In diesen Tagen ist auch mein XING Klartext „Jetzt geht es nicht um Effizienz, sondern um Selbstfürsorge“ entstanden. Ich gebe zu, dass ich die Zeit der Ruhe dann sogar etwas genossen und ich es mir bewusst auch habe gut gehen lassen. Ich habe die Kraft getankt, die ich jetzt wieder benötige, um – selbstverständlich mit Abstand und unter Beachtung der Hygienevorschriften – mit meinen Klienten im Büro an ihren Themen zu arbeiten.
Verstehen Sie mich nicht falsch, dies soll kein Loblied auf mein Talent zur Selbstreflexion oder meine strategische Weitsicht sein – ganz im Gegenteil habe ich momentan das Gefühl, dass wir alle im gleichen Boot noch auf unsicherer See treiben. Doch das starke Gefühl, derart klar zu sein über das, was mir persönlich und für meine Arbeit aktuell und ebenso in Zukunft wirklich wichtig ist, das kannte ich in dieser Intensität so bisher nicht.
Wertebewusstsein gibt heute Kraft, morgen Orientierung
Ich glaube, genau das ist es auch, was in den letzten drei Wochen dazu geführt hat und vermutlich auch in den nächsten Monaten viele Angestellte sowie auch Selbständige bewegen wird, sich ihrer Werte und Ziele im Leben wieder bewusster zu werden und mehr Klarheit darüber zu gewinnen, was für ihre persönliche und berufliche Zukunft wirklich wichtig ist. So erkläre ich mir zumindest heute diese überraschende Welle der Coaching-Anfragen der letzten Wochen.
Diese Zeit zeigt uns ebenfalls jeden Tag aufs Neue, wie schnell wir uns flexibel an neue Gegebenheiten anpassen und mit ihnen (über)leben können. Auch wenn ich hoffe, dass wir bald zu einer neuen Normalität finden, bin ich mir sicher, dass wir unser Leben lang von diesem einzigartigen Training unserer Flexibilität profitieren können. Nicht zuletzt solche positiven Erfahrungen sind vermutlich auch mit dafür verantwortlich – vielleicht auch nur unterbewusst, dass sich viele Arbeitnehmer jetzt im wahrsten Sinne des Wortes sich selbst bewusster sowie auch mental wieder stark genug fühlen, um über ihre berufliche Zukunft nachzudenken.
Ganz sicher ist es momentan nicht die beste Zeit und keine kluge Idee, um aus freien Stücken mal eben so den Job zu kündigen. Doch wer sagt, dass Sie schon morgen Nägel mit Köpfen machen müssen? Wenn diese Zeit nur dafür gut ist, sich Ihrer individuellen Wertevorstellungen, persönlichen Haltung und beruflichen Ziele bewusster zu werden, dann werden Sie sich nicht nur schon heute besser auf das fokussieren können, was Ihnen Kraft gibt und aktuell in der Krise stärkt, sondern können auch neugierig all jene Chancen und Möglichkeiten leichter entdecken, von denen Sie glauben, dass dort stärker erfüllt sein wird, was Sie motiviert und gesund hält. Wenn die Zeit hierfür reif ist.
Wie ist es bei Ihnen? Gibt es etwas, das Ihnen in den letzten Wochen durch die Corona-Krise noch bewusster geworden ist? Was ist Ihnen in Ihrem Beruf und Arbeitsumfeld klarer geworden? Was hat Ihnen vielleicht in den letzten Wochen auch besonders gefehlt, weil es wichtig für Sie ist? Oder was würden Sie sich wünschen, dass es in Zukunft anders sein wird? Wenn Sie darüber sprechen möchten, teilen Sie Ihre Gedanken doch mit uns in den Kommentaren.
Ich wünsche Ihnen für die nächsten Wochen alles Gute!
Ihr
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Weitere aktuelle Beiträge rund um Berufseinstieg, Jobwechsel und Bewerbung in der Corona-Krise finden Sie im Presse-Bereich auf meiner Homepage sowie in meinem Karriere-Blog.
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