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Große Träume – erschüttertes Erwachen

Vieles von dem, was Menschen vor, während und nach dem Mauerfall 1989 erlebt und erlitten haben, ist inzwischen genauso Geschichte wie das Ereignis selbst.

Doch werden die Erzählungen darüber wirklich verstanden? Welche existenziellen Erfahrungen wurden im Osten und Westen Deutschlands davor und danach gemacht? Wie wirkten sich Mauerbau und Mauerfall auf das persönliche Leben aus? Im Sammelband „Vom Träumen und Aufwachen. Drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall“, der mit Unterstützung der Deutschen Gesellschaft für systemische Pädagogik und der Deutschen Gesellschaft für Systemaufstellungen, erschien, werden Einzelschicksale lebendig. Die Beiträge von Expert:innen und Praktiker:innen aus Beratung, Coaching, Supervision und Therapie widmen sich Themen wie Biografiearbeit, Scham und Trauma.

Es gibt nicht viele Bücher, die so tief gehen und nachwirken. Häufig beschränken sie sich darauf, wie der Tag des Mauerfalls selbst erlebt wurden. Das Davor und Danach wird ausgeblendet. Dabei ist es gerade das, was uns auch heute beschäftigen sollte, weil es mit uns zu tun hat – unabhängig von der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Teil Deutschlands. Die Stärke und Besonderheit des Buches liegt darin zu zeigen, wie innere Geschichten über Generationen fortgeschrieben und von den Kindern erlitten werden. Flucht, Vergewaltigungen und Angst am Ende des Zweiten Weltkriegs sind beispielsweise wichtige Aspekte, die zu einem besseren Verständnis derer beitragen, die einen inneren Mauerfall zu bewältigen haben.

Dazu gehören beispielsweise die Nachwirkungen des „Mauerfalls“, die in den Medien kaum thematisiert wurden: Die Generation Mauerfall lernte schnell, sich im neuen gesellschaftlichen System zurechtfinden, weil sie einige Jahre Zeit hatte, um in das neue System hineinzugleiten. Für viele Ältere war der Schnitt allerdings härter, und es wurden Biografien zerstört: So stiegen nach der Wende die Angst- und Depressionskrankheiten im Osten Deutschlands. Fachwissen, Berufsabschlüsse und Qualifikationen wurden nicht nur nicht anerkannt, sondern auch gestrichen. Auch ereignete sich die von vielen Westdeutschen selbst nicht oft bemerkte Hybris und Ignoranz auf vielen Gebieten. Sie sprachen von „Jammerossis“ – und die anderen von „Besserwessis“.

Als besonders geschickt wurden im Osten die Menschen in den alten Bundesländern in der Kunst des Selbstmarketings wahrgenommen. Die SPD-Politikerin Regine Hildebrandt sagte damals, dass es die 13. Klasse im Westen gäbe, weil noch ein Jahr „Schauspiel“ geübt wird. Bis heute spüren viele Menschen aus der ehemaligen DDR in sich das Spannungsfeld zwischen Fachwissen und Darstellungsdruck. Sie haben ein Problem mit dem systematisches Ego-Marketing und wollen ganzheitlich als Mensch wahrgenommen werden, der für eine bestimmte Expertise und Stärken steht. Dazu gehört es beispielsweise auch, improvisieren und aus „nichts“ etwas machen zu können.

Dafür müssen wir einander zuhören, denn erst dann ist gegenseitiges Verstehen möglich. Zuhören bedeutet, von anderen zu lernen und sich vorbehaltlos auf sie einzulassen. Vielleicht kann erst heute vieles besser zusammenwachsen, weil über drei Jahrzehnte vergangen sind. Zeit braucht einen Übergang, um geschichtlich zu entstehen. Die Frage der Vereinigung ist heute keine mehr zwischen Ost und West, sondern eine, die uns alle betrifft, weil wir als Menschen aufeinander angewiesen sind.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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