Lasst die Menschen selbst entscheiden, wo und wann sie am besten für euch arbeiten!
Wer seine Mitarbeitenden ab sofort „Zurück ins Büro“ zitiert, der hat aus zwei Jahren Corona-Homeoffice nichts gelernt. Wir alle haben jetzt die Chance, gemeinsam gesunde Zusammenarbeit neu zu gestalten.
„Hopp, hopp, alle wieder zurück ins Büro!“ – Diese Ansage werden mit der weiteren Lockerung der Corona-Schutzmaßnahmen einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ihren Vorgesetzten zu hören bekommen – nach dem Motto: Das faule Lotterleben im Homeoffice mit Jogger am Küchentisch ist vorbei, und jetzt wird endlich wieder richtig und unter strenger Aufsicht reingeklotzt.
Altes ist stärker als Neues, und mir scheint, dass selbst zwei Jahre Erfahrungen mit Homeoffice und Führung auf Distanz für manche Arbeitgeber und ihre Managementmannschaft noch zu kurz waren, um zu verstehen, dass sich viele Menschen in Kopfarbeitjobs heute nicht mehr Vollzeit in Büros einsperren, geschweige denn zwangsweise in ihr Homeoffice abschieben lassen.
Es sind diese zwei Jahre Pandemie und viel Zeit der Distanz und Selbstreflexion im Homeoffice, die die Werte im Leben vieler Arbeitnehmer und damit auch ihren Blick auf Arbeit, Familie und Karriere verändert haben. Sofern es ihnen der Job erlaubt, möchten sie selbstbestimmmter entscheiden dürfen, wo sie ihre Arbeit am besten machen und wie sie die gesetzten Ziele erreichen.
Arbeitgeber, lasst die Menschen selbst entscheiden, wo sie am besten für euch arbeiten. Sie können das.
Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben in den vergangenen zwei Jahren für sich erfahren und erkannt, was ihnen persönlich guttut – und was sie auch belastet. Sie haben es zu schätzen gelernt, über ihre Arbeitszeiten im Homeoffice freier zu entscheiden, gemeinsam mit der Familie Mittag zu essen, konzentriert und fokussiert in Ruhe an einem Thema zu arbeiten, mit dem Spaziergang zwischendurch das Hirn zu lüften und nicht jeden Tag Lebenszeit im Stau oder auf dem Bahnsteig zu verbringen.
Genauso sind sie es leid, eng getaktet von einem Videocall zum nächsten zu springen und ihre Kolleginnen und Kollegen so lange nicht persönlich gesehen zu haben. Der kurze Schnack in der Kaffeeküche fehlt genauso wie das kollektive Jammern oder der gemeinsam gefeierte Erfolg. Na ja, und so viele sehnen sich 24/7 in partnerschafltlicher Lebens- und Bürogemeinschaft auch danach, endlich wieder beide Welten voneinander zu trennen.
Sowohl die Arbeit vor Ort im Büro als auch das Leben im Homeoffice haben ihre Vorteile, aber auch Schattenseiten. Das ist es doch, was uns in dieser Zeit der Pandemie bewusst geworden ist. Konsequent wäre es, diese Erfahrungen zu nutzen und jetzt die Vorteile beider Arbeitswelten zu verstärken sowie ihre Nachteile zu vermeiden.
Frembestimmung schwächt, Selbstverantwortung stärkt
Was spricht jetzt noch dagegen, wenn sich eine Teamleiterin entscheidet, die Präsentation für Mittwoch am Dienstag konzentriert in Ruhe zu Hause zu erstellen? Warum sollten sich Mitarbeitende aus einem Projekt nicht eigenverantwortlich verabreden können, um gemeinsam im Raum kreativ an Lösungen zu arbeiten? Warum darf ein Mitarbeiter im Vertrieb nicht selbst entscheiden, ob es besser ist, persönlich zu einem Kunden zu fahren, statt einen Videocall zu führen? Ist es schädlich, wenn sich Führungskräfte mit ihren Mitarbeitenden im Team selbst organisieren, wer wann wo an was arbeitet? Und ist es nicht ein Irrsinn, dass hoch qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich jetzt für eine Reduzierung ihrer Arbeitszeit entscheiden, nicht nur als Jobwechsler schräg angesehen werden, sondern auch keine passend anspruchsvollen Teilzeitjobs finden?
Ja, womöglich werfen mir manche jetzt Sozialromantik, Naivität oder keine Ahnung von der wahren Arbeitswelt da draußen vor. Für andere ist das, was ich oben skizziert habe, bereits gelebte Realität. Manche Arbeitgeber und Organisationen sind auf dem Weg zu mehr Flexibilität von Arbeitszeit und -ort sowie Selbstbestimmung des Einzelnen, während andere in diesen Tagen fleißig an neuen Homeoffice-Regeln und juristisch sauberen Betriebsvereinbarungen zur Präsenzpflicht tüfteln.
Das ist alles okay. Jede Organisation ist auf einem anderen Entwicklungsniveau, ist historisch geprägt durch unterschiedliche Werte sowie Arbeitskulturen und hat im Idealfall viele jener Menschen an Bord, die sich genau damit identifizieren können. Es gibt Angestellte, denen klare Strukturen und einheitliche Vorgaben wichtig sind. Wo „Maximal 1 Tag Homeoffice pro Woche und Gleitzeit zwischen 7 und 19 Uhr mit 30 Minuten Mittagspause“ die korrekte Ansage für Planbarkeit und Gerechtigkeit ist. Für wen jedoch heute eher „Entscheide selbst, wann du wo und wie arbeitest“ Jobzufriedenheit bedeutet, der wird sich dort nicht wohlfühlen, einen schlechteren Job machen, irgendwann das Unternehmen verlassen oder – schlimmer – aushalten und krank werden.
Nicht Titel oder Positionen entscheiden über Erfolg und Freude im Job, sondern die Art, wie Menschen mit Menschen zusammenarbeiten.
Jeder von uns benötigt ein anderes Verhältnis von Struktur und Flexibilität, Selbstbestimmung und Steuerung, Zeit mit Kollegen oder allein für sich, von Büro und Homeoffice oder neuerdings Workation. Ich etwa mag den persönlichen Austausch mit meinen Klientinnen und Klienten im Büro sehr, ab und zu ein Zoom-Coaching ist auch mal angenehm. Ich brauche genauso Zeit für mich allein, und das Schreiben solcher Texte wie diesem lässt mich entspannt Gedanken sortieren. Die Vorstellung, im schicken Loft am Traumstrand in der Karibik mein Geld ausschließlich mit Online-Coachings und bezahlter Bloggerei zu verdienen, stresst mich bereits beim Schreiben.
Aus den Karriere-Coachings der vergangenen Jahre weiß ich recht genau, was sich viele Angestellte heute wünschen und sie auch benötigen, um motiviert und gesund einen guten Job zu machen. Viele wünschen sich Leitplanken von ihren Führungskräften und eine definierte Spielwiese mit klaren Verantwortungsbereichen im Team, auf der sie sich sicher und einigermaßen frei bewegen können. Sie möchten an guten Ergebnissen gemessen werden, nicht an Präsenz im Büro und Arbeitszeit. Etwas bewegen können, einen Beitrag leisten, die Welt ein Stück besser machen. Gemeinsam im Team an einem Strang ziehend sinnvolle Ziele verfolgen, Dinge offen ansprechen, Feedback erhalten, Kritik äußern und Fehler machen dürfen. Sie wünschen sich Führungskräfte mehr als Sparringspartner und Förderer, aber auch als Entscheider – mit einen guten Mix aus Vertrauen und Kontrolle, persönlicher Nähe und professioneller Distanz.
Freude bei der Arbeit, Spaß unter Kollegen und das tiefe Gefühl von Zufriedenheit sind für die meisten Angestellten heute wichtige Werte im Beruf. Freiheit, Sinn und Identifikation, Einfluss, Gerechtigkeit und Ehrlichkeit, Kollegialität, Anerkennung und Geld sind häufig jene Werte, die darauf einzahlen. Es ist selten der Job mit seinen Aufgaben und Tätigkeiten, sondern vielmehr das Arbeitsumfeld, die Rahmenbedingungen und die Art, wie Menschen mit Menschen in einer Organisation zusammenarbeiten, die über Freude oder Frust, Stress oder Leichtigkeit, Gesundheit oder Krankheit entscheiden.
Wir alle können jetzt die Erfahrungen aus der Krise nutzen, um gesundes Arbeiten gemeinsam zu gestalten
„Flexibles Arbeiten erfordert Vertrauen statt Gesetze.“ Diese Meinung habe ich 2019 schon einmal hier auf XING vertreten. Formen von wirtschaftlich effizienter und menschlich gesunder Zusammenarbeit per Gesetz zu regulieren, das passt für mich nicht mehr in unsere heutige Arbeitswelt. Wenn es uns nicht gelingt, das alte Bild der Gegenspieler von ausbeuterisch machtvollen Arbeitgebern und schützenswert schwachen Arbeitnehmern aufzulösen, dann werden wir von echtem „New Work“ weiter denn je entfernt bleiben – und haben aus dieser Krise nichts gelernt.
Meine Hoffnung ist, dass ein Großteil der Arbeitgeber verstanden hat, dass sich Menschen nicht mehr in Großraumbüros nine to five einsperren lassen, um dort den wirtschaftlichen Erfolg ihres Brötchengebers zu maximieren. Dass viele Führungskräfte ein Bewusstsein dafür entwickelt haben, dass die Werte, Stärken und Bedürfnisse von Menschen sehr individuell sind und jede/jeder eine andere Art und Intensität von Führung sowie auch andere Arbeits- und Rahmenbedingungen benötigt, um motiviert einen guten Job zu machen. Und dass auch jede/jeder für sich selbst erkannt hat, wie viel Distanz, Freiheit und Selbstbestimmung auf der einen und wie viel Nähe, Struktur und Führung ihr oder ihm auf der anderen Seite im Arbeitsleben wichtig sind und guttun.
Es wäre fatal, jetzt mit „Zurück ins Büro“ einfach zum altgewohnten Kampf zwischen oben und unten, Macht und Gehorsam zurückzukehren. Es wird immer Ziel- und Wertekonflikte geben, wo Menschen mit Menschen zusammenarbeiten, doch was, wenn nicht diese Krise(n), hätte uns anders lehren können, dass wir auch alle gleichsam in einem Boot sitzen und es ausschließlich gemeinsam steuernd voranbringen können?
Es ist wichtig, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Führungskräfte und ihre Mitarbeitenden sowie auch Kolleginnen und Kollegen im Team genau jetzt hierüber austauschen und sich bewusst erlauben, sich auch die Zeit dafür zu nehmen, gemeinsam solche Arbeitszeit-/Arbeitsort-Modelle zu entwickeln, die ökonomisch Ertrag und Wachstum generieren sowie auch attraktiv und gesund für jene Menschen sind, die sich entscheiden, in dieser Organisation zu arbeiten.
Was können Sie in Ihrer Rolle und in Ihrem Verantwortungsbereich dazu beitragen?
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Wie geht Ihr Arbeitgeber mit der Rückkehr ins Büro um, und welche Regelungen wünschen Sie sich? Wie viel Homeoffice und Büro sind für Sie ein gutes Verhältnis? Ich bin gespannt auf Ihre Meinung in den Kommentaren.👇
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