Mikromobilität boomt: Was nun?
Gegenwärtig erlebt die Mobilitätsbranche ihre wohl radikalste Umstrukturierung seit Einführung des Automobils. Dabei ist die Bewältigung künftiger Mobilitätsströme eine der wichtigsten Herausforderungen. Um sie zu verstehen ist eine grundlegende Transformation in Richtung nachhaltige Mobilität notwendig.
Die Vereinten Nationen formulieren in ihren 17 Nachhaltigkeitszielen (SDGs) detailliert, wie Mobilität bis 2030 aussehen soll (Zugang zu sicheren, bezahlbaren, zugänglichen und nachhaltigen Verkehrssystemen für alle).
Städte und Kommunen stehen vor der Aufgabe, ehrgeizige Klimaziele zu formulieren und Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele einzuleiten. Die Mobilitätswende ist allerdings in weiten Teilen ein lokales Projekt. Die Herausforderung besteht darin, den klassischen Kraftfahrzeugverkehr zu reduzieren und attraktive Mobilitätsalternativen anzubieten, die nachhaltig sind und die Lebensqualität in den Städten steigern. Die Mikromobilität spielt also eine wichtige Rolle bei der Energie- und Mobilitätswende in den Städten. Vor allem das Fahrrad, das künftig immer mehr die Verkehrslandschaft prägen wird und der größte Innovationsschritt in der Geschichte des Verkehrs war. Es vereint flexible Mobilität, Lebensqualität und Nachhaltigkeit auf perfekte Weise.
Vor diesem Hintergrund ist auch die neue Initiative Dialog Mikromobilität zu sehen, ein Branchenbündnis von Verbänden, Unternehmen und Expert:innen. Das Motto der Initiative lautet „Mehr Miteinander wagen“. Es geht um die Kernthemen Sicherheit, Flächengerechtigkeit und Recht auf Mobilität, das für alle Verkehrsteilnehmenden gleich sein sollte. Aktuell ist die urbane Verkehrswegeinfrastruktur auf Fußgänger, Rad- und Kraftfahrzeugfahrer ausgerichtet. Mikromobilität (Kleinstfahrzeuge mit und ohne E-Antrieb, wie zum Beispiel E-Scooter, Fahrräder und Pedelecs, Elektrolastenräder, Roller usw.) wird auf der infrastrukturellen und regulatorischen Ebene noch nicht ausreichend berücksichtigt. Vielerorts fehlt eine Ladeinfrastruktur für Elektroleichtfahrzeuge wie E-Roller, E-Kickscooter oder E-Lastenräder.
Ein Beispiel: Da ein Großteil der Kund:innen der memo AG in Großstädten angesiedelt ist und sich das Unternehmen auch an dieser Stelle seiner gesellschaftlichen Verantwortung durch innovative Lösungen stellen will, wird mit Radlogistik-Unternehmen zusammengearbeitet: „Anstatt konventioneller Zustellfahrzeuge setzen sie Elektro-Lastenräder ein, die durch 100 % Ökostrom komplett emissionsfrei unterwegs sind. Zusätzlich werden Abgase und Lärmbelästigung vermieden. Da die Fahrer*innen der Lastenräder Busspur und Fahrradwege benutzen, durch Parks fahren und freigegebene Einbahnstraßen entgegen der Fahrtrichtung nutzen dürfen, ist die Zustellung in der Regel schneller als mit dem Paketzustellfahrzeug. Letztlich ist auch der Platzverbrauch der Lastenfahrräder deutlich geringer als der von konventionellen Zustellfahrzeugen“, bemerkt Claudia Silber, Leiterin Unternehmenskommunikation bei memo. Mit einem Pilotpartner wurden die ersten Pakete innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings bereits im September 2016 zugestellt. Nach den dauerhaft positiven Erfahrungen in Berlin wurden inzwischen in insgesamt zwölf deutschen Städten geeignete Partnerunternehmen gefunden. Die Anbindung weiterer Städte ist mittelfristig geplant. „Seit 2016 konnten wir insgesamt eine Steigerung der Zustellungen mit Elektrolastenrädern um knapp 18 % verzeichnen. Die meisten Radlogistik-Unternehmen, mit denen wir zusammenarbeiten bzw. eine Zusammenarbeit planen, sind Startups oder sehr junge Unternehmen“, so Silber.
Da Würzburg die „Heimatstadt“ des Unternehmens ist, sollen die Kund:innen hier nicht nur mit dem Lastenrad beliefert werden: Da die Pakete aus dem Lager in Greußenheim ebenfalls mit einem eigenen Elektrofahrzeug nach Würzburg zu den Unternehmenspartner:innen transportiert werden, ist der komplette Warenversand 100 % emissionsfrei. Seit April 2019 wird hier mit zwei Dienstleistern zusammengearbeitet: dem Berufsbildungswerk Caritas Don Bosco gGmbH, eine Einrichtung für benachteiligte junge Menschen mit Förderbedarf (die u.a. bei der Konfektionierung bestimmter Produkte unterstützt) und die Radboten GbR, ein 2017 gegründetes Unternehmen für umweltfreundliche Express-Logistik. Geht im Unternehmen die Bestellung eines Kunden aus Würzburg bis 11.00 Uhr ein, wird diese noch am selben Tag von den Partnerunternehmen ausgeliefert. Realisiert wurde das Projekt zusammen mit Studierenden der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt. Neben einer umfassenden Umweltverträglichkeitsanalyse ermittelten die Studierenden im Rahmen ihrer Arbeit unter anderem geeignete Partner für die Zustellung, passende Lastenräder und sinnvolle Standorte für Micro-Hubs. In Würzburg konnte die Anzahl der mit Radlogistik zugestellten Pakete bereits nach einem Jahr verdoppelt werden (Quelle: memo Nachhaltigkeitsbericht).
Auch viele weitere Unternehmen engagieren sich in diesem Bereich: So ist die METRO Gründungsmitglied der 2017 gegründeten EV∗100 Electric Vehicles Initiative der Climate Group, in der sich international agierende Unternehmen zusammengeschlossen haben, um die Elektromobilität im Alltag bis 2030 einzuführen. „Das Unternehmen verpflichtete sich zur Einführung von Elektromobilität in Service- und Dienstleistungsverträgen, zur Errichtung von Elektroladestationen für Mitarbeiter und zur Errichtung und zum Betrieb von Elektroladestationen für Kunden“, sagt Olaf Schulze, Director Energy Management der METRO.
Um ihn nachhaltig zu gestalten, braucht es nicht nur politischen Willen, sondern auch Tatkraft, die Klimafrage mit oberster Priorität anzugehen und das „Bewusstsein für die Dringlichkeit“ der Umsetzung wirkungsvoller Maßnahmen gegen den Klimawandel. „Das ist die erste Voraussetzung, damit sich Entscheidendes bewegt“, sagt der promovierte Betriebswirtschafter Benedikt Weibel, der von 1993 bis 2006 SBB-Chef sowie von 2008 bis 20219 Präsident des Verwaltungsrates der Schweizerischen Rheinhäfen war. Damit die Wende hin zu einer umwelt- und klimafreundlichen Mobilität gelingt, muss auch die Bahn eine Schlüsselrolle spielen: „Kein anderes Verkehrsmittel kann auf kleiner Fläche so viele Menschen befördern, ist vielerorts konkurrenzlos schnell und weist erst noch eine gute CO2-Bilanz aus.“ Das bemerkt auch die in Berlin lebende Autorin Anne Weiss, die hier die meisten Orte gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreicht: „Daher habe ich kein Auto, fahre die weiteren Strecken mit der Bahn und innerhalb der Stadt mit Fahrrad oder Bus, Tram, S- und U-Bahn – in der Großstadt zugegebenermaßen leichter und oft auch viel praktischer ist als auf dem Land.“
In 37 Reflexionen widmet sich Benedikt Weibel in seinem aktuellen Buch „Wir Mobilitätsmenschen“ ausgewählten Dimensionen der Mobilität, aus denen sich Konturen einer Verkehrswende ableiten lassen, welche die Mobilität von Menschen und Gütern sichert und zugleich das unumgängliche langfristige Ziel erreicht: Den Verkehr von fossilen Treibstoffen zu befreien. Weibel unterteilt Mobilitätsentscheidungen in zwei Kategorien: Rahmenentscheidungen und Einzelentscheidungen. Er plädiert dafür, zukünftige Mobilität nicht aufgrund von Ideologien, sondern aufgrund von gut durchdachten, länderübergreifenden nachhaltigen Strategien zu steuern: „Es gilt die Grenzen der Mobilität so klug zu ziehen, dass sich der Mensch auch in Zukunft über seine Bewegungsfreiheit freuen kann.“
Benedikt Weibel: Wir Mobilitätsmenschen. Wege und Irrwege zu einem nachhaltigen Verkehr. NZZ Libro, Basel 2021.
Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. SpringerGabler Verlag, Berlin, Heidelberg 2020.