Selbstverwirklichung statt Aufstieg – die neue Freiheit im Beruf
Karriere als „Höher, schneller, weiter“ war gestern, für viele Angestellte ist das Selbst im Beruf wichtiger geworden: Das eigene Ding machen, etwas zum Guten beitragen, persönliche Interessen verfolgen, Leidenschaft spüren, Sinn erleben. Es ist immer seltener der hierarchische Aufstieg, der echten beruflichen Erfolg ausmacht, sondern der innere Aufstieg als persönliche Entwicklung und individuelle Entfaltung in einer Organisation. Warum wir Karriere auf beiden Seiten neu denken sollten – für mehr persönliche Zufriedenheit im Beruf sowie eine stärkere Attraktivität als Arbeitgeber.
Corona hat unsere Werte im Beruf verschoben
Besonders fällt es mir in den letzten zwei Jahren bei meinen Klientinnen und Klienten im Coaching auf: Bei ihren Anliegen geht es kaum noch um Ziele und nächste Schritte für den Aufstieg innerhalb einer Organisation, sondern zunehmend darum, jene zu den eigenen Werten und Stärken passenden Positionen sowie ein Arbeitsumfeld zu finden, in welchem eine persönliche Entwicklung als Verwirklichung der eigenen Ziele möglich ist.
Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben sich in den letzten zwei Jahren gefragt, wofür sie jeden Morgen aufstehen und was der Sinn ihres Tuns ist. Sie haben im Homeoffice, in Kurzarbeit oder zwischen zwei Jobs raus aus ihren Hamsterrädern und auf Distanz erkannt, dass es inzwischen andere Dinge sind, die ihnen im Beruf und auch im Leben wichtiger geworden sind.
Das Selbst und die Freiheit für persönliches Wachstum haben hierbei in meiner Wahrnehmung stark an Relevanz gewonnen – nicht als Egoismus, sondern aus Selbstfürsorge.
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Selbstverwirklichung im Beruf hat viele Gesichter
Mit fast allen Klienten spreche ich intensiv über ihre Werte im Beruf – also das, was ihnen wirklich wichtig ist und sie auch benötigen, um gesund und mit Freude einen guten Job zu machen. Über die letzten 11 Jahre meiner Arbeit als Coach sehe ich, wie sich nicht nur Werte verschoben, sondern sich auch das Verständnis von „Selbstverwirklichung“ als einer von vielen Werten im Beruf gewandelt hat.
Während viele mit diesem Wert früher so etwas wie eine höhere Berufung oder den Schritt in die Selbständigkeit verbunden haben, so sehen sie Selbstverwirklichung heute stärker als erstrebenswertes Ziel auch im Angestelltenverhältnis.
Hier sind einige Beispiele, was meine Klientinnen und Klienten sagen, was sie mit Selbstverwirklichung im Beruf verbinden:
- Ich kann Kreatives für mich umsetzen
- Sinn stiftende Arbeit, die mich bereichert
- Freiheit von Ort und Zeit meiner Arbeit
- Ich kann viele meiner Stärken und Fähigkeiten einbringen
- Ich setze meine Stärken Sinn stiftend ein
- Ich bleibe auf meiner Zielgeraden
- Persönliche Weiterentwicklung
- Verbundenheit mit mir selbst
- Ich darf so sein, wie ich will
- Ich kann selbst Entscheidungen treffen
- Ich besitze Einfluss auf wesentliche Entscheidungen
- Ich kann mich selbst gut einbringen
- Inneres Leuchten
- Ich kann mir selbst treu bleiben
- Mein Wirken ist nachhaltig
- Ich habe die Möglichkeit, zu wachsen
- Ich bin beruflich und privat mit mir im Reinen
- Ich kann meine Ideen einbringen und auch umsetzen
- Mein eigenes Handeln hat Einfluss auf das Ergebnis
- Ich besitze Gestaltungsspielraum in meinem Tun
- Meine Arbeit und die Themen beflügeln mich
Das Selbst in Selbstverwirklichung spielt eine zentrale Rolle: Ich darf ich selbst sein, ich kann selbst Entscheidungen treffen, meine Arbeit bereichert auch mich selbst. Es geht viel um die Freiheit für persönliche Gestaltung, individuelle Kreativität, das Eigene einbringen zu können.
Es ist also weder die Selbständigkeit mit der Südsee-Bar noch das Yoga-Zentrum mit Workation auf Bali, sondern es sind die Rahmenbedingungen von Arbeit sowie die Führung und Kultur innerhalb von Unternehmen, die jenen Gestaltungs- und Freiraum erlauben, um als angestellte/r Arbeitnehmer/in das Gefühl von Selbstverwirklichung zu spüren.
Nicht jeder muss sich selbstverwirklichen, darf es aber
Bei fast allen meinen Klientinnen und Klienten, denen Selbstverwirklichung im Beruf wichtig ist, ist dieser Wert schon lange nicht mehr erfüllt – sonst säßen sie mir nicht gegenüber. Sie stecken fest in Organisationen, in denen sie abarbeiten und nicht denken sollen. Sie haben Chefs über sich, die sie klein halten, statt sie wachsen zu lassen. Sie sind in Jobs gelandet, in denen ihre echten Stärken kaum einen Wert besitzen. Sie sehen keinen Sinn in ihrem Tun und fragen sich jeden Tag, wofür sie morgens aufstehen.
Selbstverwirklichung ist ein hohes Ziel – und wenn wir auf den alten Maslow mit seiner Bedürfnispyramide blicken, dann steht sie nach der Erfüllung vieler lebenswichtiger Grundbedürfnisse als Wachstumsziel an der Spitze. Mir ist bewusst, dass es aktuell auch viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gibt, die um ihre Jobs bangen oder sie in der Krise verloren haben. Womöglich auch jene, die es in Zeiten von Krieg in der Ukraine und hoher Inflation als unpassend empfinden, über Selbstverwirklichung im Beruf nachzudenken. Denen schlicht jeden Monat Geld verdienen wichtiger ist, als den tieferen Sinn ihres Tuns zu entdecken. Andere sagen mir, dass sie einfach spannende Aufgaben, viel Abwechslung und ein gutes Team benötigen, um Freude im Job zu empfinden – die Selbstverwirklichung müsse es nicht sein. Ich finde, das ist auch in Ordnung.
Nicht jeder muss sich in seinem Beruf selbst verwirklichen. Wer hiermit wortwörtlich nichts anfangen kann, dem sind andere Werte wichtiger. Doch ich halte es für all jene wichtig, für die ihr Selbst im Beruf insbesondere in den letzten Jahren an Bedeutung zugenommen hat, sich die eigene Freiheit zu erlauben, dieses Ziel wortwörtlich selbst-bewusst verfolgen zu dürfen.
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Viele Arbeitgeber locken noch über Titel und Aufstieg
Sehe ich mir Stellenausschreibungen und darin jenen Part an, in dem Arbeitgeber mit besten Aufstiegsmöglichkeiten werben und erfahre ich von meinen Klienten, dass ihre Führungskräfte sie in Jahres- und Entwicklungsgesprächen eher über Titel und mehr Geld bei der Stange halten wollen, dann habe ich das Gefühl, als sei dieser Wandel in vielen Organisationen und den Köpfen ihrer Manager noch nicht angekommen.
Natürlich wird niemand freiwillig den Senior-Titel und das gute Geld ablehnen, doch am Ende sind es heute oft jene anderen Werte und Rahmenbedingungen, die über Freude oder Frust im Beruf entscheiden, wie ich sie oben beispielhaft für die Selbstverwirklichung aufgeführt habe.
Mein heutiger Impuls geht an beide Seiten: An Arbeitgeber mit ihren Managern, HR-Teams und Führungskräften, die sich stärker für die individuellen Werte ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter interessieren sollten. In persönlichen Gesprächen zu hinterfragen, was für einen Menschen als Kollege oder auch als Jobwechsler wirklich wichtig ist und was sie oder er benötigt und auch erwartet, um mit Freude gesund und motiviert im Team gute Leistungen zu erbringen.
Der Wunsch vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach mehr Selbstverwirklichung im Beruf ist längst keine unverschämt naive Träumerei mehr. Wer es als Arbeitgeber versteht, jene Rahmenbedingungen und eine Führungskultur zu entwickeln, die individuelle Entwicklung und Entfaltung im Team ermöglichen, der wird in Zukunft mehr Wechselwillige gewinnen sowie auch engagiert Mitarbeitende binden können, als mit dem wichtigst klingenden Titel oder dem 2,5-prozentigen Gehaltsplus.
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Wer mehr Selbstverwirklichung sucht, kann sie finden
Ist auch Ihnen Selbstverwirklichung im Beruf wichtig oder wichtiger geworden, dann sollten Sie zunächst für sich selbst diesen Begriff mit Leben füllen. Was sollte alles gegeben sein, damit dieser Wert für Sie weitgehend und dauerhaft in einem Arbeitsumfeld erfüllt ist?
Ich sehe zudem bei vielen meiner Klientinnen und Klienten, dass sie sich nicht trauen oder es als etwas zu Hohes, Unverschämtes bewerten, sich mehr Selbstverwirklichung im Beruf zu wünschen.
Ist es denn wirklich unverschämt, sich in einer beruflichen Aufgabe mit den eigenen Stärken optimal einbringen zu können? Ist es zu viel verlangt, den Sinn im eigenen Tun erkennen zu können? Und ist es tatsächlich Wunschdenken, sich auch im Job selbst treu bleiben zu dürfen?
Die meisten der von mangelnder Selbstverwirklichung Frustrierten entscheiden sich für den Wechsel ihres Arbeitgebers. Sie erlauben sich, gezielt nach einem neuen Umfeld zu suchen, in dem stärker erfüllt ist, was sie für sich mit Selbstverwirklichung verbinden.
Als Bewerberin oder Bewerber sollten Sie offen und ehrlich darüber sprechen, was Ihnen in Zukunft im Beruf wichtig ist. Schaffen Sie Klarheit, was eine gute berufliche Entwicklung für Sie ausmacht - in diesem Fall Selbstverwirklichung statt nur Aufstieg. Versuchen Sie, ein gutes Gefühl für die Kultur im Unternehmen und das Miteinander im Team zu gewinnen. Fragen Sie Ihre potenzielle Führungskraft, was er oder sie an den Menschen in seinem oder ihrem Team besonders schätzt. Klären Sie, ob Sie den Typ Machtmensch oder Menschenfreund vor sich sitzen haben sowie welche Weiterbildungen oder individuellen Entwicklungsprogramme angeboten werden.
Denn es gibt sie, die Arbeitgeber, die den Raum für mehr Selbstverwirklichung bieten: Führungskräfte, die sich über mitdenkende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter freuen. Chefs, die mehr Sparringspartner und Mentor statt Kontrolleur sind. Teams, in denen Individualität und Vielfalt mehr zählen als Anpassung und Gehorsam. Dort, wo Selbstverwirklichung nicht gefährliches Wagnis, sondern die Freiheit für menschliche Entfaltung auch zu wirtschaftlichem Erfolg führt.
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Wie wichtig ist Ihnen Selbstverwirklichung im Beruf - und was bedeutet es für Sie? Ich bin gespannt auf Ihre Erfahrungen und Meinungen unten in den Kommentaren 👇
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