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Über den Wahnsinn unserer Zeit

Gute Interviews lassen den Kopf dahinter erkennen, denn der Befragte ist oft immer nur so gut wie derjenige, der die Fragen stellt. Zu ihnen gehört auch Arno Luik. Der 1955 geborene Autor war Reporter für „Geo“ und den Berliner „Tagesspiegel“, Chefredakteur der „Taz“, Vizechef der „Münchner Abendzeitung“ und langjähriger Autor der Zeitschrift „Stern“. Seine Gespräche sind in mehr als 25 Sprachen übersetzt worden. In diesen Tagen erscheint sein Buch „Als die Mauer fiel, war ich in der Sauna. Gespräche über den Wahnsinn unserer Zeit“. Es enthält Interviews mit „echten“ Persönlichkeiten, die sich nicht kopieren, sondern nur kapieren lassen. Der Titel des Buches führt zunächst in die Irre, weil er suggeriert, dass es um Gespräche rund um den Mauerfall geht. Im Fokus steht jedoch vielmehr die Suche nach dem Sinn im Leben und in der Gesellschaft. Und es geht um die „zerrissene, verstörte, manchmal trotzdem schöne Welt – um die es sich lohnt, zu kämpfen.“

Seine Gespräche haben nichts Kompliziertes, sondern sind immer aufgeladen mit Emotion und Bedeutung. Er beginnt häufig mit provozierenden Fragen, die aber als klare Weichen zu verstehen sind, die es ermöglichen, dass sich ein spannendes Gespräch überhaupt entwickeln kann. Nur so können später Dinge „erlesen“ werden, die woanders nicht zu finden sind. Es ist aber auch ein Buch über „wahre Autorität“, die es nur geben kann, wenn sie auch Widerspruch aushält. Viele Prominente sind heute von Medienberatern „fürsorglich umstellt“ und möchten die Kontrolle über ihr Bild in der Öffentlichkeit behalten. Das führt leider oft dazu, dass die Persönlichkeit glatt gebügelt und manipuliert erscheint. Wirklich authentisch ist, wer seine eigene Meinung vertritt und sich nicht vom Zeitgeist oder von Werbeagenturen stilisieren lässt.

In diesem Zusammenhang nimmt Jean Ziegler, der zu den bekanntesten Globalisierungskritikern und Kämpfern für die Menschenrechte gehört, eine besondere Rolle in diesem Buch ein, denn auch ihm geht es darum, aufzudecken, was nicht in der „Selbsthervorbringung der Gesellschaft auftaucht“. An sich ist ein Intellektueller, der Bewusstseinsinhalte produziert, für ihn nichts. Vielmehr gewinnt er historische Existenz erst dann, wenn er sich konkreten sozialen Handlungen anschließt. In dem Maße, wie seine Begriffe, Theorien und Analysen ihnen dienen, schafft er etwas Nützliches. Es geht um Dringlichkeit und Tun. Der 1934 geborene Soziologe war bis 1999 Nationalrat im eidgenössischen Parlament und von 2000 bis 2008 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Von 2009 bis 2019 war er Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats. Er ist davon überzeugt, dass jedem ein reflektierendes Bewusstsein innewohnt und Kants kategorischer Imperativ der Motor der weltweiten Zivilgesellschaft ist: "Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." (§ 7 Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft in der Kritik der praktischen Vernunft)

Die Politikerin Sahra Wagenknecht las in ihrem Zimmer, als das Brandenburger Tor aufging. Auch präsentiert sie sich als eine ausgewiesene Goethe-Kennerin. Faust will ihrer Ansicht nach wirkliches Leben: „… er rebelliert gegen dieses Unbehaust-Sein in erniedrigenden, beschränkenden Verhältnissen, er hat eine Nicht-Bereitschaft zu Dummheit. Er will eine Gesellschaft, in der Menschen wirklich Menschen sein können.“ Thomas Buergenthal, geboren 1934 in Lubochna, verbrachte seine Kindheit in polnischen Ghettos und den Konzentrationslagern Auschwitz und Sachsenhausen. Er war u.a. Richter am Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte, Mitglied der UN Wahrheitskommission für El Salvador und des UN Menschenrechtsausschusses. Im Gespräch sagt er: „Der Mensch ist zu allem fähig – auch heute noch, trotz Auschwitz. Mich erstaunt da nichts. Die Menschlichkeit ist immer gefährdet.“ Das bestätigt auch der Universalhistoriker Eric Hobsbawm (1917-2012): „Aber geistig, politisch, moralisch – da kommt der Mensch nicht hinterher, vielleicht entwickelt er sich im Augenblick noch weiter zurück.“

In diesen Kontext gehört auch das Gespräch mit dem Historiker Hans-Ulrich Wehler, der sich das Renommee eines respektlosen, scharfsichtigen, ungewöhnlich pointiert formulierenden Wissenschaftlers erarbeitete: „Der Mensch lernt nicht nur wenig aus der Geschichte, er ist auch nicht gewappnet für neue Situationen.“ Und Ferdinand von Schirach, ein auf Strafrecht spezialisierter Rechtsanwalt und Enkel des überzeugten Nationalsozialisten Baldur von Schirach, bemerkt: „Wir stehen immer an der Schwelle des Untergangs. Wir bewegen uns auf einer dünnen Eisschicht. Wir feiern Feste auf ihr, wir tanzen, aber das Eis kann brechen - und darunter ist es kalt, und man stirbt schnell.“ Auch wenn die Ordnung der Welt wankt: Bücher wie dieses geben auch dann noch inneren Halt, wenn die Welt aus den Fugen gerät, weil sie uns zeigen, was es bedeutet, frei zu denken, zu träumen und zu handeln. Die Interviews unterstützen auch darin, die eigene Situation in der Welt zu verstehen, denn jeder – wo auch immer er sich befindet und zu welcher Gesellschaft er auch gehört - kann viel zur Verbesserung gesellschaftlicher Zustände beitragen.

Dazu gehören auch Gespräche, in denen es um Alter, Tod und Sterben geht. Die Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff empfand das Altern als „größtmögliche Zumutung“. Den Schritt von der Leidenschaft zur großen Liebe hat sie nie gewagt, trainierte sich Arroganz und Härte an und beschloss, nie etwas zu empfinden. Das Interview widmet sich dem „Scherbenhaufen“ ihres Lebens. Besonders bewegend ist auch das Gespräch mit Gisela Martine Getty und ihrer Zwillingsschwester Jutta Winkelmann, die als Vertreterin der 68er-Bewegung bekannt wurde. Jutta ging durch die Hölle, um zum wirklichen, geistigen Leben zu kommen. „Ich will nicht mehr zurück, nur noch tiefer in mein Inneres.“ Für sein Interview mit Inge und Walter Jens wurde Luik 2008 als "Kulturjournalist des Jahres" ausgezeichnet. Als der Literaturhistoriker an Demenz erkrankte, fiel das gemeinsame Fundament, das gleichberechtigte, fortlaufende Gespräch weg. Es ist ein erschütterndes Dokument mit Inge Jens, die ihren Mann nur noch durch Berührung, nicht mehr durch Worte und Blicke erreichen konnte. In solchen Momenten erreichen die Interviews eine Schmerzgrenze. Besonders bewegend ist auch das Interview mit Markus Lanz, dessen Vater mit 52 Jahren an Leukämie starb – da war der spätere Moderator gerade 14 Jahre alt. Die Sängerin und Moderatorin Ina Müller plädiert dafür, dass unbedingt mehr über Sterbehilfe gesprochen werden sollte. Das Buch birgt aber auch viele Überraschungen: Das Gespräch mit Angela Merkel, dem sich auch der Titel des Buches verdankt, ist zwar nicht das stärkste, aber ihr Schlusssatz ist zugleich ein „Abbinder“ jener tiefen Themen, die dieses Buch auf besondere Weise prägen – und vielleicht macht der Titel vor diesem Hintergrund doch Sinn. Um ihn zu verstehen, sollte alles gelesen werden: „Für den Himmel habe ich keine Pläne. Ich will da oben meine Ruhe. Sonst nichts.“

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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