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Wie eine Büroklammer die Radtour rettete

Es war einmal eine geteilte Stadt in einem geteilten Land. In dem westlichen, ummauerten Teil dieser Metropole lebte ein junger Mann. Er war einer von Millionen Inselbewohnern in West-Berlin und feierte gerade sein Abitur. Schon damals liebte er das Radfahren so wie heute. Es war ein halbes Jahr vor dem Mauerfall. Und es ist meine Geschichte.

Blick auf Ost-Berlin nahe Anhalter Bahnhof – Stresemannstraße/Köthener Straße bei den legendären Hansa-Studios
Blick auf Ost-Berlin nahe Anhalter Bahnhof – Stresemannstraße/Köthener Straße bei den legendären Hansa-Studios

Als Schüler hatte ich ein Spiel entwickelt, mit dem man spielerisch Berlins Sehenswürdigkeiten und die Geschichte erkunden konnte. Durch die Gestaltung dieses Spiels hatte ich alle 23 Bezirke in West- und Ost-Berlin besucht. Auf meinen Erkundungsfahrten war ich einmal in Ost-Berlin verhaftet worden. Ohne Vorwarnung tauchte ein Mannschaftswagen der Volkspolizei auf und zerrte mich in den Wagen. Später kamen weitere Wagen der Polizei. Warum ich das Haus des ungarischen Botschafters fotografiert hätte, wurde ich angeschrien. Ich hatte eine Villa in Berlin-Weißensee fotografiert, denn sie galt als bauhistorisch bedeutetend. Ich hatte keine Ahnung, dass dort der ungarische Botschafter lebte. Nach einer Stunde Befragung und Ausweiskontrolle konnte ich gehen.

So intensiv hatte ich die Geschichte Berlins erkundet und auch verstecktere Baudenkmäler gefunden. Ich kannte mich in West- und Ost-Berlin sehr gut aus, auch die versteckten Sehenswürdigkeiten und Schleichwege. Einem Freund hatte ich versprochen, eine Gruppe von Touristen auf einer Radtour durch Berlin zu begleiten und deren Tourguide zu sein.

Ich kam von meinen Eltern aus dem Südwesten Berlins, um die Touristengruppe in Kreuzberg zu treffen. Es war Sonntagmorgen. Die Stadt war wie ausgestorben. Kaum Autos. Kein einziger Laden hatte offen.

Mitten auf dem etwa fünfzehn Kilometer langen Weg zum Treffpunkt mit der Gruppe Touristen riss völlig unerwartet meine Fahrradkette. Ein Glied der Kette war so kaputt, es war nicht zu reparieren. Ich war geschockt und aufgeschmissen. Ich war viel zu weit weg von meinen Eltern oder Freunden, die vielleicht ein neues Kettenglied zu Hause gehabt hätten. Fahrradläden machten erst am Montag wieder auf. Sogar Bäckereien hatten sonntags alle geschlossen, und Spätis mit einem 24/7-Service gab es noch lange nicht.

Außerdem – heute unvorstellbar – hatten wir keine Smartphones. Ich wusste weder, in welchem Hotel die Touristen wohnten, noch konnte ich irgendwen über WhatsApp oder Signal erreichen. Hätte ich mein Rad zum Treffpunkt geschoben, wäre ich etwa 40 bis 50 Minuten zu spät gekommen. Außerdem wollte ich den Bekannten meines Freundes ja ein guter Gastgeber sein.

Mein Gehirn ratterte, und ich war völlig fixiert, eine Lösung zu finden. Ich musste rechtzeitig zum Treffpunkt kommen. Ich suchte den Boden nach Draht ab. Ich schaute in Vorgärten und Hauseingänge, ob irgendein herumliegender Gegenstand mir helfen könnte.

Plötzlich durchfuhr mich ein Geistesblitz. Unter zahlreichen Ohrringen in meinen drei Ohrlöchern befand sich auch eine Büroklammer. Könnte sie das fehlende Kettenglied ersetzen?

Tatsächlich ließ sich die Kette mit der Büroklammer zusammenziehen. Zitternd machte ich eine erste vorsichtige Fahrprobe. Ich konnte ohne jede Einschränkung auf meinem Fahrrad fahren. Etwa 10 Minuten Zeit hatte ich durch die Aktion verloren. Da ich ursprünglich 10 Minuten eingeplant hatte, um vor der Gruppe am Treffpunkt zu sein, kam ich sogar pünktlich zum Treffpunkt, und wir hatten eine großartige Stadtrundfahrt auf Rädern.

Zwei weitere Wochen hielt die Büroklammer bei intensiver Rad-Nutzung.

Die Büroklammer hatte nicht nur die Radtour gerettet. Sie zeigte mir eine Botschaft für das ganze Leben: Wir haben immer mehr Ressourcen zur Verfügung, als wir denken. Je genauer wir hinsehen, desto mehr Mittel und Möglichkeiten erkennen wir. Greift zu. Oft ist es das Naheliegende.

Bieten Risiko und Ausprobieren mehr Sicherheit als im Bekannten zu bleiben? Wie ich an der Grenze überrascht wurde, als die Verhaftung drohte. Wagen oder nicht wagen?

© Provotainment GmbH
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Martin Gaedt schreibt über Provotainment, Leben und Arbeit, cleveres Recruiting, Wirtschaft & Management

Martin Gaedt ist Autor von "4 TAGE WOCHE", "Rock Your Work", "Rock Your Idea" und "Mythos Fachkräftemangel". Er ist Provotainer und hat seit 2014 in 650 Keynotes mehr als 100.000 Gäste begeistert, provoziert und entertaint. Seit 1999 gründet er Unternehmen und stellt 44 Fragen, der Anfang des Neuen.

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