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1988 mit Freunden aus Ost- und West-Berlin an der Weltzeituhr, Alexanderplatz in Ost-Berlin - © Martin Gaedt

Wie ich an der Grenze überrascht wurde, als die Verhaftung drohte

Seit 1985 feierte ich als West-Berliner regelmäßig Partys in Ost-Berlin. Für meine Freunde in West-Berlin war das undenkbar. Nach Ost-Berlin fuhr niemand freiwillig. Sie meinten: „Da ist doch alles grau! Warum fährst du immer rüber?“

Wer so fragte, wurde von mir zur nächsten Party nach Ost-Berlin eingeladen. Und viele nahmen die Einladung an. Nach der ersten Party zu Hause bei meinen Ost-Berliner Freunden kam immer dieselbe Reaktion: „Die sind ja so wie wir! Hören dieselbe Musik, reden über dieselben Themen. Das hätte ich nie für möglich gehalten.“ Hinter den grauen Mauern sah die Welt ganz anders aus.

Kommst du uns besuchen?

Wie kam es zu diesen Partys? Vier Jahre vor dem Mauerfall klingelte bei meiner Familie das Telefon. Nachts um 2 Uhr. Es gab 1985 nur ein einziges Telefon im Haus. „Martin, Telefon für dich“, sagte meine Mutter. Wer wollte nachts mit mir sprechen? „Hallo. Wir rufen dich aus Ost-Berlin an. Dass es so spät ist, tut uns leid. Wir haben so lange an der Telefonzelle gewartet. Wir sind Fans von Howard Jones, so wie du. Wir haben dich im Radio gehört. Kommst du uns besuchen?“

BÄHM. Ich war wach. Monate zuvor hatte ich im Radio dazu aufgerufen, einen Berliner Howard-Jones-Fanclub zu gründen. Womit ich nicht gerechnet hatte, dass Fans aus Ost-Berlin anrufen würden. Das war total verrückt und jensseits meiner Vorstellungskraft. Ich war überrumpelt, und doch sagte ich zum Glück spontan „Ja, ich komme“. So treff ich Alex, Heike, Howard, Roger, Steffen und Tobias in Ost-Berlin. Später wurde die Party-Gruppe immer größer. Hunderte Gäste kamen – sogar aus Teltow, Kleinmachnow, Paris und den USA. Das waren illegale Versammlungen. Es war nicht erlaubt, sich unangemeldet in so großen Gruppen zu treffen.

Ausreisen wie eingereist

Auf einer Party in Ost-Berlin färbten sich Howard aus Ost-Berlin und ich rote Farbe ins Haar. Um Mitternacht bei der Ausreise brüllte mich ein Grenzbeamter an: „Beim nächsten Mal reisen Sie so aus, wie Sie eingereist sind.“ Eingereist war ich mit weißblond gefärbtem Haar.

Herbst 1988 - © Martin Gaedt
Herbst 1988 - © Martin Gaedt

Unsere Freunde hatten uns beim Abschied mit liebevoll eingepackten Geschenken überrascht, die wir zu Hause auspacken sollten. Die Grenzbeamten rissen alle Geschenke auf und stopften sie wieder in unsere Taschen. Es war diese Willkür, Unfreundlichkeit und der krasse Gegensatz zur Freude und Nähe unserer Partys, die mich zutiefst erschütterte. Ohnmacht und tiefer Frust gingen mir durch Mark und Bein.

Kaum war ich zurück in West-Berlin brachen die Tränen aus mir heraus, und ich weinte wie nie zuvor. Niemals würden unsere Freunde uns besuchen können. Das stand für uns fest.

Einreise verweigert

Auch am 01. Januar 1989 fuhren Freunde und ich direkt von der Silvesterparty in West-Berlin zur Neujahrsparty nach Ost-Berlin. Meine Haare waren wieder unauffällig kurz und braun. Am Grenzübergang S-Bahnhof Friedrichstraße reisten wir alle ein – fast alle. Mir wurde die Einreise verweigert. Ich hatte ein gültiges Visum. Doch jeder Grenzbeamte konnte willkürlich und ohne Begründung entscheiden, wer doch nicht durfte. Einfach so.

Alle West-Berliner Freunde waren bereits in Ost-Berlin. Ich hingegen musste zurück nach West-Berlin. Smartphones gab es nicht, und die Freunde in Ost-Berlin hatten alle kein Festnetztelefon. Ich hatte keine Möglichkeit, irgendwem Bescheid zu sagen, dass alles mit mir okay war.

Ein halbes Jahr zuvor saßen Freunde aus Ost-Berlin 24 Stunden in Untersuchungshaft, nachdem sie mich zum Grenzübergang begleitet und dabei Friedenslieder gesungen hatten. Der Schreck saß noch tief. Ich musste irgendwie nach Ost-Berlin kommen, um zu sagen, dass alles okay war.

Ein undenkbarer Gedanke

Ich starrte das ungültige Visum an. Dann schaute ich noch mal hin, und noch mal und noch mal. Anders als sonst, wenn ich nicht einreisen durfte, fehlte der dicke Stempel „Einreise verweigert“.

Mein Tagesvisum war frisch – wie unbenutzt.

Ich wagte den undenkbaren Gedanken: Was wäre, wenn ich an einem anderen Grenzübergang einreiste? Die Idee überraschte mich selbst. Es erschien mir lebensmüde. Ich kannte niemanden, der das schon mal versucht hatte, nach einer verweigerten Einreise an einem zweiten Grenzübergang erneut die Einreise zu versuchen.

Die Idee war zu laut

Das konnte gar nicht klappen. Ich war mir sicher, dass längst an allen Grenzübergängen bekannt war, dass ich heute nicht einreisen durfte. Doch die Idee war zu laut: Versuch es!

Ich fuhr zur Oberbaumbrücke. Die ganze Brücke zwischen Kreuzberg und Friedrichshain war Teil des Todesstreifens. Auf der einen Seite der Spree war West-Berlin. Sobald man die Brücke betrat, war man in der DDR. Der Grenzübergang war auf der anderen Seite der Spree. So früh am Morgen am Neujahrstag war ich der einzige Einreisende. Alleine lief ich über die Spree.

Der Mund des Grenzbeamten öffnete sich

Ich durfte mir nichts anmerken lassen, innerlich war ich starr vor Angst. Der Grenzbeamte schaute auf mein Visum und auf meinen Pass. Dann schaute er mich direkt an. Jetzt platzt die Bombe, dachte ich. Er wird mich anbrüllen, was mir einfiele, ob ich ihn für dumm verkaufen wolle und mich festnehmen.

Der Mund des Grenzbeamten öffnete sich wie in Zeitlupe, und er sagte:

„Jetzt wünschen wir uns erst mal ein frohes neues Jahr.“
Ein Grenzbeamter an der Oberbaumbrücke 01.01.1989

Dabei lächelte er freundlich. Ich wünschte ihm auch ein gesundes neues Jahr. Stempel. Einreise genehmigt. Ich war in Ost-Berlin. Solche menschenfreundlichen Grenzbeamten gab es auch. 313 Tage später öffnete sich die Mauer für immer.

Lasst uns mehr ausprobieren als wir für möglich halten – auch gegen Mauern und Widerstände.

Wir haben immer mehr Möglichkeiten und Ressourcen als wir denken: Wie eine Büroklammer die Radtour rettete.

Martin Gaedt schreibt über Provotainment, Leben und Arbeit, cleveres Recruiting, Wirtschaft & Management

Martin Gaedt ist Autor von "4 TAGE WOCHE", "Rock Your Work", "Rock Your Idea" und "Mythos Fachkräftemangel". Er ist Provotainer und hat seit 2014 in 650 Keynotes mehr als 100.000 Gäste begeistert, provoziert und entertaint. Seit 1999 gründet er Unternehmen und stellt 44 Fragen, der Anfang des Neuen.

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