Dr. Bernd Slaghuis

Dr. Bernd Slaghuis

für Job & Karriere, berufliche Neurorientierung, Bewerbung

"Wir müssen Karriere endlich neu denken"

Bild: 123rf.com , Ion Chiosea

Erfolg im Beruf ist heute mehr als höher, schneller, weiter. Doch die alte Karriere-Denke ist immer noch tief in Unternehmen und den Köpfen vieler Arbeitnehmer verankert. Warum wir uns von den alten Karriere-Fesseln nach gesellschaftlichen Normen befreien und Karriere zur persönlichen Ansichtssache erklären sollten. 

Wer es in der Hierarchie nach oben geschafft hat, der ist beruflich erfolgreich. Dieses Verständnis von Karriere hat über Jahrzehnte die Generationen der Arbeiter und Angestellten und ihr Handeln geprägt. Einfluss, Status, Geld und Ansehen als Maßstäbe für beruflichen Erfolg. Aufstieg als sichtbares Symbol für Karriere ist auch heute noch tief in vielen Köpfen sowie im Wertesystem unserer Gesellschaft verankert. 

Selbst wenn das alte Bild von Karriere mit dem Wandel in der Arbeitswelt und einer veränderten Haltung von Berufseinsteigern und Arbeitnehmern der jungen Generationen Y und Z in den vergangenen Jahren sehr stark ins Wanken geraten ist, lassen sich die durch Erziehung und Gesellscchaft geprägten Werte und Denkmuster offensichtlich nicht einfach so wegradieren.

Höher, schneller, weiter als Maß für erfolgreiche Karrieren?

Längst sollte vielen Managern und Personalverantwortlichen klar sein, dass Status und Macht auf der persönlichen Werteskala der meisten Arbeitnehmer inzwischen weit unten rangieren, doch weiterhin wird in Stellenanzeigen und auf Karriereseiten an erster Stelle mit hervorragenden Aufstiegs- und Verdienstmöglichkeiten geworben.

In der Schlacht um die besten Talente übertreffen sich Arbeitgeber mit großartig klingenden Positionen und machen etwa aus dem Kundenbetreuer den Senior Customer Success Manager. Dabei fühlen sich viele Bewerber durch die kreativen Titel und vielversprechenden Job-Aussichten mehr verängstigt als angezogen. Die alte Karriere klingt noch gut, doch sie dockt immer weniger bei der Zielgruppe an.

Arbeitgeber wünschen sich Quereinsteiger, rufen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie aus und locken mit flexiblen Arbeitszeiten oder sogar Home-Office, doch hinter der bunt schimmernden Employer-Branding-Fassade versteckt sich bei genauem Hinsehen oftmals immer noch stures, hierarchisches Leiterklettern.

Up or Out! Bei der HR-Politik in den großen Managementberatungen sowie in den mächtigen markenstarken Konzernen und bei Arbeitgebern mit ihren Managern der alten Schule ist die erfolgserprobte Wachstumsideologie vom Höher, Schneller, Weiter immer noch das Maß für erfolgreiche Karrieren.

Akzeptanz neuer Karrierewege: Außen hui - innen pfui  

Die Möglichkeit, von einer Führungsposition wieder zurück ins Team oder temporär zwischen Führung, Fachexperte oder Projektarbeit zu wechseln, ist im heutigen Recruiting und Talentmanagement in der Unternehmenspraxis nur selten die Rede. Ganz im Gegenteil: Bewerber ohne geradlinigen Lebenslauf werden – wenn sie nicht vorher bereits durch das Robot-Recruiting automatisch aussortiert wurden – schräg angesehen und besonders kritisch geprüft.

Führungskräfte, die bewusst Verantwortung abgeben oder Angestellte, die mit einer 4-Tage-Woche andere wichtige Ziele in ihrem Leben realisieren möchten, werden blindlings als nicht belastbar abgestempelt. Downshifter und Neuorientierer haben als Bewerber in Unternehmen mit solchem Verständnis von Karriere keine Chancen, denn sie passen niemals so gut zu einem Stellenprofil wie ein Kandidat mit klassisch rotem Faden als Karriereweg.

Viele der heutigen Strategien zur Personalentwicklung, die meisten Feedbackprozesse für Jahresgespräche und Programme zur Mitarbeiterbindung basieren weiterhin auf den alten an Aufstieg, Gehalt und Status orientierten Karrieremodellen. Und so wird auch morgen noch der beste Experte in seinem Fach zum Chef erkoren und darf sich stolz mit mehr Geld und Firmenwagen in Führung ausprobieren, um ihn nicht mangels Entwicklungsalternativen in den Dienst nach Vorschrift zu treiben oder sogar an die Konkurrenz zu verlieren.

Angestellte suchen nach alternativen Karrieremodellen

Wo ist diese schöne neue Arbeitswelt, von der so häufig die Rede ist? Was ist mit der Mosaik- statt Kaminkarriere, der Gleichstellung von Experten- und Führungslaufbahn, der echten Vereinbarkeit von Familie und Beruf, der Angleichung des Gender-Pay-Gaps, einer vollwertigen Teilzeit abseits vom Mutti-Image? Was ist mit den bekannten Erfolgsgeschichten über Aussteiger, Downshifter und berufliche Neuorientierer, die ihre Träume verwirklicht und Glück und Berufung in ihren neuen Berufen gefunden haben?

Es scheint, als sei die Sehnsucht vieler Arbeitnehmer nach mehr Freiheit und Flexibilität im Beruf sowie auch das gesellschaftliche Interesse an einer neuen Sicht auf Karriere, die den Menschen mit seinen individuellen Stärken, Werten und Zielen in den Fokus stellt, stärker, als es die starren Prozesse und Gewohnheiten als Resultat einer lange gehegten Kultur aus autoritärer Führung und eingeengtem Blick auf Karriere in den Organisationen heute bereits erlauben.

Doch auch viele Mitarbeiter selbst stecken noch fest im Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach Selbstverwirklichung mit der Haltung „Die Karriere kann mich mal!“ auf der einen Seite und andererseits der alten Welt des Wettlaufs die Karriereleiter hoch im Wettbewerb um Ansehen und Zugehörigkeit. Sie möchten zwar ihre eigenen Potenziale stärker unabhängig von gesellschaftlichen Konventionen und mit weniger Blick auf Aufstieg, Status und Einkommen frei entfalten, doch im nächsten Moment stellt sich auch bei ihnen immer noch das Gefühl von Neid oder Frustration ein, wenn der Kollege gleichen Alters oder Werdegangs im Job vorbeizieht und die Beförderung samt wichtig klingendem Titel in den sozialen Netzwerken postet.

Karriere sollte persönliche Ansichtssache sein

Ein neues, stärker durch Individualität und Freiheit statt durch Gleichartigkeit, Anpassung und Status geprägtes Verständnis von Karriere wird sich erst durchsetzen, wenn das eigene Denken mit dem alten Bild von Erfolg im Beruf Frieden schließt. Und wenn auch Arbeitgeber Bewerbern und Mitarbeitern glaubhaft zeigen, dass Karriere für sie nicht länger gesellschaftliche Normerfüllung, sondern eine individuelle, persönliche Entscheidung ist.

Fachliche und persönliche Weiterentwicklung ist und wird auch in Zukunft noch viel stärker der Motor für Motivation und Erfolg im Beruf sein. Doch die Entscheidung über Richtung und Tempo sollte jeder in Zukunft individuell treffen und im Laufe seines Lebens auch anpassen dürfen. 

Karriere ist die berufliche Entwicklung entsprechend der persönlichen Werte und Ziele eines Menschen in seiner individuellen Lebenssituation.

Erst wenn Karriere für Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen zu reiner Ansichtssache wird, werden die vielfältigen Ressourcen und Potenziale von Menschen effizient und gesund mit den neuen Möglichkeiten einer digitalen Arbeitswelt kombiniert und so die nächsthöhere Entwicklungsstufe erreicht werden können.

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Dieser Text ist ursprünglich erschienen in meiner Bilanz-Kolumne.

Wer schreibt hier?

Dr. Bernd Slaghuis
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Karriere- und Business-Coach, Dr. Bernd Slaghuis

für Job & Karriere, berufliche Neurorientierung, Bewerbung

Karriere ist heute mehr als nur "höher, schneller, weiter". Seit 2011 habe ich über 1.800 Angestellte bei ihrem nächsten Schritt im Beruf begleitet. Von der Neuorientierung und Bewerbung bis zum Onboarding. Meine Erfahrungen teile ich hier als XING Insider, auf meinem Blog und als SPIEGEL-Kolumnist.
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