Mittelständler führt Vier-Tage-Woche in der Produktion ein: „Das ist phänomenal gut“
Der mittelständische Maschinenbauer Wenzel aus dem Spessart hat die Vier-Tage-Woche in der Produktion eingeführt. Die Resultate überraschten Befürworter wie Skeptiker.
Ein Beitrag von Kristina Appel
Das Experiment Vier-Tage-Woche beginnt 2021 – Deutschland steckt mitten in der Coronakrise, und viele Unternehmen erleben eine Flaute. Die Kurzarbeit bei Maschinenbauer Wenzel im Spessart läuft aus, und immer öfter wenden sich Angestellte an die Personalabteilung, um zu erfahren, wie eine Reduktion der Wochenstunden sich auf ihr Gehalt auswirken würde.
In der Presse kursieren zu dieser Zeit schon Nachrichten von Konzepten der Vier-Tage-Woche in Island und Belgien. Daniel Eisler, Personalleiter bei Wenzel, registriert den Wunsch nach mehr Freizeit und bringt seine Beobachtung zur Geschäftsführung. Die ist sofort begeistert – ein Konzept soll her.
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Dr. Heike Wenzel leitet den Familienbetrieb mit weltweit über 500 Angestellten in zweiter Generation. Das Unternehmen fertigt Koordinatenmessmaschinen. Denn alles, was auf Maß gefertigt wird, muss auch ausgemessen werden können – Schrauben etwa, die auf ein Gewinde passen sollen. Diese Messtechnik stellt die Wenzel Group her. Der Mittelständler ist ein klassischer deutscher Hidden Champion: international erfolgreich, mit Hauptsitz im Spessart.
Wie in den meisten Familienunternehmen stehen die Mitarbeitenden besonders im Fokus. Für Heike Wenzel bedeutet das, den Spagat zwischen familiärem Erbe und einem attraktiven Betrieb für die nächste Generation schaffen zu müssen. Mit Gehältern der beiden regionalen Konkurrenten, dem Bosch-Konzern und dem Gabelstaplerbauer Linde, kann Wenzel nicht konkurrieren. Aber an anderen Stellen, wie es sich herausstellt, schon.
Mythos 1: Die Produktivität wird sinken – das kann sich niemand leisten!
Personalleiter Eisler holt zunächst intern Meinungen ein. Der Betriebsrat ist begeistert, das Management äußert Bedenken. Skeptiker warnen Heike Wenzel vor dem Schritt: „Die Produktivität wird sinken, das könnt ihr euch nicht leisten.“
Daniel Eisler besucht Praktiker und spricht mit anderen Betrieben über ihre Erfahrungen mit der Vier-Tage-Woche. Er merkt schnell: Es gibt keine Blaupause.
Eisler und Wenzel wollen kein Modell, wie Belgien es vorgemacht hat: Eine einfache Umschichtung der vollen 40 Stunden auf vier Tage kommt für sie nicht infrage. „Der Maschinenbau steckte als Branche schon vor der Pandemie in einer Krise. Wir wollten nach diesen schweren Zeiten ein Zeichen setzen und gemeinsam mit unseren Mitarbeitenden nach vorn blicken.“ Darum schenkte die Geschäftsführung ihren Mitarbeitenden als Teil der Umstellung flächendeckend 1,5 Stunden.
Im November 2021 stellt Daniel Eisler sein Konzept vor
Mitarbeitende mit 37,5 Stunden-Verträgen (maßgeblich in der Produktion) arbeiten von nun an 9 Stunden am Tag und bekommen 1,5 Stunden bei gleichem Gehalt geschenkt. So kommen sie auf 36 Wochenstunden.
Mitarbeitende mit einer 40-Stunden-Woche bekommen die Möglichkeit, auf das neue 37,5-Stunden-Modell umzusteigen – mit der entsprechenden Gehaltskürzung. Danach gelten die obigen Änderungen auch für sie.
40-Stunden-Verträge können aber auch 40-Stunden-Verträge bleiben. In diesem Fall wird ein fester Homeoffice-Tag Teil des Angebots und es steht jeder/m frei, die Stunden zukünftig anzupassen.
Teilzeitmodelle werden individuell angepasst.
Das Konzept wird in einer Betriebsversammlung der gesamten Belegschaft vorgestellt. Anerkennung und ein wenig Verunsicherung mischen sich. In den ersten Wochen, erzählt der Betriebsratsvorsitzende Heiko Reinosch, seien die Kollegen donnerstags ungläubig nach Hause gegangen.
Aber die Sorge vor ständigen Überstunden waren schon nach wenigen Wochen ausgeräumt. „Ich male jetzt jeden Freitag einen Smiley in meinen Kalender“, erzählt Reinosch, der Teamleiter in der Montage ist. „Mittlerweile fühlt es sich an, als hätte es den Freitag nie als Arbeitstag gegeben.“
Mythos 2: Die Kunden werden das nicht mögen
Wenzel ist ein international agierender Betrieb. Kunden aus allen Zeitzonen wünschen sich Erreichbarkeit. Das bedeutet für vertriebliche und kaufmännische Angestellte, dass sie nicht immer freitags, sondern rollierend freie Tage haben.
Und was, wenn was schiefgeht und Maschinen nicht ausgeliefert werden können? Hier wurde ein Puffer vereinbart. Im Einverständnis mit dem Betriebsrat können Mitarbeitende an vier Freitagen im Jahr unbürokratisch in die Produktion berufen werden. Bisher wurde diese Ausnahmeregelung allerdings nur einmal aktiviert.
Mythos 3: Der Aufwand lohnt sich nicht
Das Team um Daniel Eisler gab sich vier Wochen Zeit, um das neue Konzept umzusetzen. Im Dezember 2021 führten Eisler und sein Team mit jedem der Angestellten ein persönliches Gespräch und passten im Anschluss jeden einzelnen Vertrag an.
„Wir hatten die Gelegenheit, die Stimmungslage im Betrieb abzutasten. Wir haben gefragt, wie es den Familien geht, wie sich Corona und die Kurzarbeit angefühlt haben.“ Dabei seien noch viele kleine Wünsche und Ideen zum Vorschein gekommen. Die Gespräche waren für alle ein Gewinn. Die Bilanz: Ein Monat enormer Arbeitsaufwand, der sich gelohnt hat.
Seit dem 2. Januar 2022 wird das neue Konzept umgesetzt. Die Wenzel Group ist der erste Maschinenbaubetrieb in Deutschland, der sich an dieses Thema rangetraut hat. „Je mehr man abwägt, desto mehr Nachteile findet man auch. Wir haben das Konzept schnell und effizient eingeführt – und dann an einigen Stellen justiert“, sagt Heike Wenzel. Das Ergebnis: Mehr Freude, weniger Kranke, mehr Bewerbungen. Die Zusammenarbeit, findet Personalleiter Daniel Eisler, hat sich intrinsisch verbessert, weil alle auf das gleiche Ziel hinarbeiten.
Und auch von diesen Vorteilen berichtet die Belegschaft
Weniger Pendeln – an mindestens einem Tag pro Woche fallen Verkehr, Benzin und Fahrtzeit weg.
Weniger Alltagsstress und Fehlzeiten – Arzt- und Amtstermine werden jetzt vorwiegend an den freien Tagen genommen.
Mehr Work-Life-Balance: „Den Leuten merkt man es an – sie sind viel entspannter!“ erzählt Betriebsratsvorsitzender Reinosch. Wenn man Haus und Familie hat, ist man froh um jede Extrastunde, die man hat. Und an einem verlängerten Wochenende kann man wirklich runterkommen.“
Selbst das Management beobachtet positive Effekte
Mittel- und langfristig spart Wenzel Energie, weil sowohl die Klimatisierung der Räume, als auch die Produktionsmaschinen drei Tage lang runtergefahren werden.
Die Bewerber·innenzahlen seine deutlich angestiegen, berichtet Heike Wenzel. Auch für Auszubildende ist die Vier-Tage-Woche sehr attraktiv. Der Einzugsbereich ist gewachsen. Wenzel ist gerade bei Führungskräften und IT-Fachleute überregional interessant geworden.
Der Krankenstand hat sich halbiert. „Das ist phänomenal gut“, findet Daniel Eisler, und es hat seine Erwartungen deutlich übertroffen.
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Mythos 4: Eine Lösung, von der alle Beteiligten profitieren, gibt es nicht
Bei Wenzel gab es die. Aber auch die Wenzel-Lösung ist keine universale: Die Struktur der Arbeitsprozesse erlaubte genau diese Umstellung in diesem Betrieb. Aber die Skills und Tools, die genutzt wurden, stehen jedem Unternehmen zur Verfügung:
Auf die Frage, welche Eigenschaften dieses Projekt so schnell erfolgreich umsetzbar machten, erklärt Daniel Eisler: „Offenheit. Die Offenheit der Geschäftsführung, über eine grundsätzliche Veränderung nachzudenken, und die Lust, sich für Fachkräfte in der Region und auf dem Markt attraktiver zu machen.“ Denn sie müssen kreativ werden, weiß der Personalleiter, um auch zukünftig Facharbeiter zu finden. Die Ausbildungsquote sinkt bei allen Mittelständlern in der Region, 2022 konnte auch Wenzel nicht alle offenen Azubi-Stellen besetzen.
Mut und Hingabe gehörten auch dazu. Das Projekt wurde ohne Plan B eingeführt, und das mit Priorität: Anfang Dezember war die Vier-Tage-Woche eine Idee, Anfang Januar war sie Realität. Zudem gab es die Bereitschaft, wirklich individuelle Lösungen zu finden.
Wie? Mit lückenloser Kommunikation.
Multiplikatoren aus der Belegschaft: Teamleiter haben das Thema in ihre Teams gebracht und kommunikativ Vorarbeit geleistet.
Eine Betriebsversammlung mit Heike Wenzel, um die Neugierde zu befriedigen.
Die Einzelgespräche: Die Personalabteilung ist auf alle individuellen Sorgen und Ängste eingegangen.
Heike Wenzel sieht es als großen Vorteil des Mittelstands, dass Loyalität untereinander herrscht und Unternehmensführung und Belegschaft gemeinsam auf ein Ziel hinarbeiten. Und die Geschäftsführerin hat ihre Devise gelebt „Einfach mal machen“.
Wer hier spricht:
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