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"Der Vor-Corona-Zustand war nicht die beste aller möglichen Welten"

Die Philosophin und Sozialwissenschaftlerin Prof. Lisa Herzog lehrt am Centre for Philosophy, Politics and Economics der Universität Groningen. Sie erforscht, wie wir über Märkte, Menschen und Organisationen denken, und wie die Zukunft der Arbeit aussieht. Im NWXnow-Videocast spricht sie am 23. November mit Marc-Sven Kopka über sozialen Kitt in Unternehmen und die schwer unterschätzte Verbindung zwischen New Work und tradierten sozialen Instanzen.

Wir haben sie vorab zum Interview getroffen. Lisa Herzog über Arbeitskampf im Homeoffice, die Bedeutung flüchtiger Begegnungen und die Frage, ob Unternehmen sich freiwillig demokratisieren.

Worum geht es im Democratize-Work-Manifest, das du mit unterzeichnet hast?

Lisa Herzog: Das war ein Aufruf, den einige Kolleginnen im Mai diesen Jahres gestartet hatten und ich war als eine der ersten mit dabei. Letztendlich wurde das Manifest von über 3000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterzeichnet und in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Der Anlass dazu waren die Erfahrungen aus der ersten Phase der Corona-Krise, als vielen Menschen schlagartig bewusst wurde, dass es Menschen gibt, die unsere Gesellschaft am Laufen halten und das oft unter relativ schlechten Arbeitsbedingungen. Das gab den Anstoß, fundamentale Fragen danach zu stellen, wie wir die Arbeitswelt gestalten wollen.

In dem Manifest wird das in drei Themenkreisen erörtert – demokratische Mitbestimmung in der Arbeitswelt, Dekommodifizierung, also die Frage, in welchem Maße die Arbeit den Marktkräften ausgeliefert ist oder z.B. durch eine Jobgarantie durch öffentliche Beschäftigung ein Gegengewicht gegen die reinen Marktmechanismen liefern kann, und drittens die Herausforderung, wie Arbeit nachhaltig gestaltet werden kann. Denn die Umgestaltung der Wirtschaft hin zu mehr Klimafreundlichkeit hat natürlich direkte Auswirkungen darauf, wie Arbeit gestaltet wird – ganz konkret erleben wir ja z.B. im Moment, dass vielleicht nicht alle Flugreisen, die früher normal erschienen, wirklich notwendig sind.

Sind solche Forderungen realistisch?

Lisa Herzog: Auf jeden Fall sind sie für unsere Gesellschaften unglaublich wichtig. Wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind ja nicht die einzigen, die solche Forderungen stellen, sondern wir haben hier unser Gewicht mit in die Waagschale derjenigen geworfen, die das schon lange auf der Agenda haben, z.B. Gewerkschaften und auch anderweitige Organisationen von Arbeitenden, in Ländern, in denen Gewerkschaften verboten sind.

Und was die Realitätsnähe angeht – viele der Dinge, die da gefordert werden, sind ja zumindest in Ansätzen schon verwirklicht. Deutschland hat im internationalen Vergleich eine relativ gut ausgeprägte Mitbestimmungskultur, auch wenn sie an vielen Stellen unter Druck ist. In der Philosophie gibt es den Begriff der „realistischen Utopien“, also Forderungen, die derzeit vielleicht noch etwas utopisch erscheinen mögen, die aber doch eine reale Chance darauf haben, umgesetzt zu werden. Aus diesen ersten Ansätzen können wir auch lernen, was funktioniert, und was vielleicht auch noch nicht so gut funktioniert und anders angegangen werden muss.

Was funktioniert denn nicht?

Lisa Herzog: Wir erleben zum Beispiel im Moment in der westlichen Welt, dass viele historisch erkämpften Rechte der Arbeitenden durch neue Konstrukte unterlaufen werden, über Vermittlungsplattformen oder über Scheinselbstständigkeit beispielsweise. Dadurch herrschen in manchen Bereichen der Arbeitswelt wieder sehr unregulierte Verhältnisse.

Ist Homeoffice in dem Zusammenhang auch ein Rückschritt?

Lisa Herzog: Alles hat Vor- und Nachteile. Ein Nachteil ist, dass die Angestellten sich persönlich weniger begegnen. Das heißt nämlich auch, dass sie nicht die Vertrauensbasis untereinander aufbauen können, die nötig ist, um gemeinsam für Forderungen zu kämpfen. Es ist eine ganz große offene Frage, was Homeoffice längerfristig für Gewerkschaftsarbeit, Streiks etc. bedeutet.

Aber ich will Remote Work auch nicht komplett verdammen, weil sich durch die digitalen Technologien auch neue Möglichkeiten eröffnen. Wenn sich Forderungen nach mehr Mitsprache, Partizipation und demokratischen Abstimmungsprozessen erheben, kann jetzt nämlich nicht mehr der Einwand kommen, es sei alles viel zu teuer, langwierig und aufwändig. Wir haben ja in den vergangenen Monaten gesehen, dass man mit entsprechenden Tools auch Entscheidungsprozesse so gestalten kann, dass viele Menschen mit einbezogen werden und es trotzdem einigermaßen schnell geht.

Kein Unternehmen wird sich selbst demokratisieren, wenn die Forderungen nicht aus der eigenen Belegschaft kommen, oder?

Lisa Herzog: Doch, solche Beispiele gibt es durchaus. Im Moment experimentieren einige Unternehmen damit, wie demokratischere Praktiken im Alltag aussehen könnten. Dass zum Beispiel in einzelnen Abteilungen die Chefs oder Chefinnen gewählt werden, und wie man Strukturen ohne steile Hierarchien aufbaut. Das Bewusstsein dafür, dass da Alternativen möglich sind, steigt auch bei vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Insofern gehe ich davon aus, dass entsprechende Forderungen in Zukunft stärker aus den Belegschaften heraus kommen werden.

Aber ich kann mir vorstellen, dass solche Zugeständnisse erstmal nur relativ privilegierten Beschäftigten gemacht werden und in Bereichen, die nicht so spezifische Fähigkeiten erfordern oder wo der soziale Status der Angestellten nicht so hoch ist, die Firmen doch erstmal ablehnen. Insofern glaube ich, ist Demokratisierung im Arbeitsumfeld auf Dauer nichts, wo man nur auf Freiwilligkeit setzen sollte.

Was hat das Unternehmen davon, wenn es sich demokratisiert?

Lisa Herzog: Zunächst muss man mal ganz offen sagen, dass damit für diejenigen, die vorher viel Macht hatten, ein Machtverlust einhergeht. Aber für das Unternehmen als Organisation kann es auch sehr viele Vorteile haben. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die gehört und ernst genommen werden, sind wesentlich motivierter. Hierarchien können außerdem unglaublich schädlich sein für eine gute Feedback-Kultur, weil sie Vertrauen zerstören oder den Mitarbeitenden das Gefühl geben, dass sie zwar alles teilen, was sie wissen, aber nichts davon wirklich aufgenommen wird. Demokratische Strukturen ermöglichen es dagegen, die Erfahrungen und Kenntnisse der Mitarbeitenden optimal zu nutzen.

Ist die Corona-Krise ein Hemmschuh bei solchen Entwicklungen oder eher eine Chance, Umbrüche in der Arbeitswelt endlich mal umzusetzen?

Lisa Herzog: Krisen können dann so eine Art katalysierende Wirkung entfalten, wenn bestimmte, als selbstverständlich hingenommene Dinge plötzlich als kontingent und veränderbar erkannt werden. Da könnte ich mir schon vorstellen, dass Corona positive Auswirkungen hat, weil man unter anderem gesehen hat, dass Homeoffice den Ablauf des Betriebes nicht notwendigerweise behindert, obwohl vorher in vielen Unternehmen die Meinung vorherrschte, dass das alles ja überhaupt nicht geht und ohne Kontrolle nicht funktioniert.

So eine Einsicht lässt sich dann nicht mehr einfach so zurückdrehen. Eine andere spannende Frage finde ich, ob wir dieses Bewusstsein bewahren können, von der Arbeit anderer Menschen abhängig zu sein, wie wir es am Beginn der Krise erlebt haben, und ob das vielleicht auch längerfristig die Bereitschaft erhöht, eben diese Jobs besser zu bezahlen und dort bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen.

Wo bleibt der Einzelne in der Krise?

Lisa Herzog:Viele von uns erleben jetzt, dass uns bestimmte Menschen, die uns im Vor-Corona-Alltag begegnet sind, einfach fehlen, weil wir im Homeoffice sind oder weil andere Menschen im Homeoffice sind. Begegnungen, denen man vorher vielleicht gar nicht so viel Gewicht beigemessen hat, werden auf einmal in ihrer Bedeutung für uns erkennbar. Da spürt man erst, dass diese Arten von scheinbar flüchtigen Begegnungen, die man vor Corona immer hatte, für unser Leben unglaublich bereichernd sind, auch wenn die andere Person das nicht einmal weiß. Insofern kann man sich vielleicht auch nochmal stärker bewusst machen, wer denn eigentlich diese Leute sind, die uns dieses Gefühl vermitteln.

Welche sozialen Fragen stellen sich Politik und Unternehmen in der Krise – und welche sollten sie sich stellen?

Lisa Herzog: Ich glaube, im Moment sind sehr viele Stellen in so einer Art Überlebensmodus im Sinne von „Wie können wir durch diese konkrete Krise kommen?“. Es klingt manchmal, als ob der Februar 2020 als der erstrebenswerte Normalzustand betrachtet würde, als ob das damals die beste aller möglichen Welten gewesen sei. Wir haben aber noch mindestens zwei andere, ganz große Felder, die die Politik und die Unternehmen betreffen.

Zum einen das Klima und die Frage, wohin steuern wir in Bezug auf CO2-Emissionen und andere Umweltfragen? Und zum anderen das Thema soziale Ungleichheit und sozialer Zusammenhalt. Insofern sollten wir als Gesellschaft jetzt nicht davon ausgehen, dass unsere einzige Aufgabe darin besteht, irgendwie wieder zum Zustand Februar 2020 zurück zu kehren, sondern diese anderen Krisen und Herausforderungen müssen auch ganz dringend bewältigt werden. Daher hoffe ich, dass die Aufmerksamkeit dafür nicht verloren geht.

Wie kann es eigentlich Solo-Selbstständigen oder Leuten im Homeoffice gelingen, sich zu organisieren, um Demokratisierung oder Partizipation durchzusetzen?

Lisa Herzog: In vielen Bereichen gibt es entweder Gewerkschaften, Interessenverbände oder Zusammenschlüsse von Betroffenen. Es fängt oft damit an, dass man im Internet Onlineforen findet, wo man sich mit anderen austauschen kann, die in einer ähnlichen Situation sind. In manchen Fällen gibt es auch Beratungsstellen, zum Beispiel für Arbeitsrecht. Auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Demokratisierung nimmt zu und wir versuchen ständig, mehr Materialien online verfügbar zu machen. Zum Thema Umwandlung von Unternehmen in Genossenschaften gibt es da schon eine ganze Menge. Der erste Schritt ist aber meiner Meinung nach immer, Verbündete zu finden, die in einer ähnlichen Situation sind und vielleicht noch andere Informationsquellen kennen als man selbst.

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Weitere Infos zum Democratize Work Manifest gibt es hier: https://democratizingwork.org

Über die NWXnow

Wer mehr von Prof. Lisa Herzog erfahren möchte, sollte am 23. November 2020 bei der NWXnow vorbeischauen.

Wir präsentieren analog zur NEW WORK EXPERIENCE die neue digitale Formatreihe NWXnow. Wir möchten weiterhin ein Forum für die Diskussion zur Zukunft der Arbeit bieten. Denn wir sind davon überzeugt: Es geht mehr denn je um die Frage, wie wir die Weichen für eine zukünftige Arbeitswelt stellen, in der wir arbeiten wollen. Um Klarheit und Orientierung zu schaffen, sprechen wir dazu regelmäßig mit unterschiedlichsten Experten, Vordenkern und Praktikern.

Die NWXnow beinhaltet Videocasts, bei denen Fachleute aus Gesellschaft, Wirtschaft und Politik über den Wandel der Arbeitswelt sprechen, spannende Artikel, Hintergrundinformationen, Interviews, Online-Workshops und Webinare, spannende Artikel und vieles mehr. Die zentrale Fragestellung: Was kommt, was bleibt und was verändert sich?

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NWX – New Work News schreibt über Alles zur Zukunft der Arbeit

Alles zur Zukunft der Arbeit: Auf dieser News-Seite finden alle New Work-Interessierten multimedialen Content rund um das Thema. Neben Experten-Interviews, Debatten, Studien, Tipps und Best Practices, erwarten die Leser auch Video- und Podcastformate. Und natürlich ein Überblick unserer gesamten New Work Events, die mehrmals im Jahr im gesamten deutschsprachigen Raum stattfinden. Weitere spannende Inhalte zum Thema New Work finden Sie auf: nwx.new-work.se

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