Dr. Bernd Slaghuis

Dr. Bernd Slaghuis

für Job & Karriere, berufliche Neurorientierung, Bewerbung

Gut, dass die Homeoffice-Pflicht ein Ende hat

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Warum es sinnvoll ist, jetzt die Pandemie bedingte Homeoffice-Pflicht zu beenden und wie wir die Erfahrungen aus der Krise nutzen können, um gemeinsam an neuen Formen gesunder Zusammenarbeit zu arbeiten.

Seit dem 27. Januar 2021 ist die SARS-CoV-2-Arbeitsschutzverordnung in Kraft, die Arbeitgeber dazu verpflichtet, ihren Mitarbeitenden Homeoffice anzubieten – sofern es ihnen möglich ist. Im Rahmen der Beschlüsse zur Corona-Notbremse wurde diese Regelung im April verschärft und auch Arbeitnehmer verpflichtet, zuhause zu arbeiten – soweit ihrerseits keine Gründe entgegenstehen. Diese Pflichten waren zunächst befristet bis zum 30. April und wurden mit Aufnahme in das Infektionsschutzgesetz bis zum 30. Juni verlängert.

Ich finde es gut, diese Pandemie bedingte Ausnahmesituation nicht erneut in eine Verlängerung zu schicken – sofern dies vor dem Hintergrund der aktuell niedrigen Inzidenzwerte sowie der Entwicklung der Delta-Variante vertretbar ist. 

Nicht, weil ich dafür bin, dass ab sofort wieder alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von ihren Chefs pflichtbewusst ins Büro zurück zitiert werden können, sondern weil der Wegfall der staatlichen Regulierung Arbeitgebern sowie auch Arbeitnehmern wieder mehr Flexibilität erlaubt und den Weg für das viel zitierte „New Normal“ eröffnet. Doch dazu später mehr.

Homeoffice: Die Stimmungslage im Land könnte nicht unterschiedlicher sein

Ich weiß, dass sich viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den letzten Monaten an ihr Homeoffice gewöhnt und die hiermit verbundenen Freiheiten schätzen gelernt haben. Allein der Gedanke an die Rückkehr ins Büro, den wieder täglich hautnahen Kontakt mit ihren Kolleginnen und Kollegen, die Nähe zu ihren Führungskräften oder die nervig langen Fahrtzeiten lassen ihren Stresspegel ansteigen. Es ist schon die Rede davon, dass wir erst wieder lernen müssen, uns in der Welt außerhalb des Homeoffice sicher zu bewegen, denn schließlich sei dies nach über einem Jahr neuer Gewohnheit ein riesiger Schritt aus der Komfortzone heraus. 

Auf der anderen Seite weiß ich von vielen, die seit Beginn der Pandemie zu 100 Prozent im Homeoffice gehockt haben, dass sie sich wie Bolle darauf freuen, ihre Kolleginnen und Kollegen endlich wieder persönlich zu treffen. Viele neue Kollegen sowie auch neue Mitarbeiter und ihre Chefs sind sich im vergangenen Jahr noch nie persönlich begegnet – und das wird für sie jetzt höchste Zeit. Sie freuen sich auch auf den privaten Plausch in der Kaffeeküche und die Wiederbelebung des Flurfunks – was ich übrigens auch für die Kultur in einem Unternehmen für enorm wichtig halte. Und sie freuen sich darauf, dass Ihre Chefin oder ihr Chef wieder besser sehen kann, was sie tagtäglich alles leisten. Naja, und manche werden auch drei Kreuze machen, wieder mehr Zeit für sich zu haben – abseits von Home-Schooling und 24/7 Partnerschaftspflege.

Die verordnete Zeit im Homeoffice war für manche Segen, für andere Fluch – und für viele irgendwas dazwischen. Umso wichtiger aber ist es doch, genau diesen unterschiedlichen menschlichen Bedürfnissen und persönlichen Vorstellungen von gesunder Arbeit in Zukunft noch gerechter werden zu können.

Flexibles Arbeiten erfordert Vertrauen, keine Gesetze

Diese Meinung habe ich 2019 schon einmal hier auf XING vertreten. Arbeitszeit per Gesetz zu regulieren, das passt für mich nicht mehr in unsere heutige Arbeitswelt. Doch wie stark wir noch in diesem Zusammenhang gefangen sind, zeigt, dass jetzt schon wieder findige Juristen darauf hinweisen, dass mit Umsetzung der Corona-Homeoffice-Beschlüsse in der Krise und auf die Schnelle in vielen Unternehmen Fehler gemacht wurden und die Pflicht zur Rückkehr in die Büros arbeitsrechtlich teilweise nur schwer durchsetzbar sein wird. Ich sehe bereits vor meinem geistigen Auge die erbost klagenden Arbeitnehmer, die – vermutlich eh längst Dienst nach Vorschrift schiebend – ihr Recht auf Küchentischarbeit durchsetzen werden.

Was Recht ist, ist recht, doch Freude im Job und gesundes Arbeiten fühlen sich anders an. Wenn es uns nicht gelingt, das alte Bild der Gegenspieler von ausbeuterisch machtvollen Arbeitgebern und schützenswert schwachen Arbeitnehmern aufzulösen, werden wir von echtem „New Work“ weiter denn je entfernt bleiben.

Erfahrungen nutzen, Veränderung gemeinsam gestalten

Meine Hoffnung ist, dass uns die erlebte Distanz in der Krise näher zueinander geführt hat. Dass ein Großteil der Arbeitgeber verstanden hat, dass sich Menschen nicht mehr in Großraumbüros 9-to-5 einsperren lassen, um dort den wirtschaftlichen Erfolg ihres Brötchengebers zu maximieren. Dass viele Führungskräfte ein Bewusstsein dafür entwickelt haben, dass die Werte, Stärken und Bedürfnisse von Menschen sehr individuell sind und jede/jeder eine andere Art und Intensität von Führung sowie auch andere Arbeits- und Rahmenbedingungen benötigt, um motiviert einen guten Job zu machen. Und dass auch jeder für sich in den letzten Monaten erkannt hat, wieviel Distanz, Freiheit und Selbstbestimmung auf der einen und wieviel Nähe, Struktur und Führung ihr oder ihm auf der anderen Seite im Arbeitsleben guttut.

Es wäre fatal, jetzt mit "Zurück ins Büro" einfach zum alt gewohnten Kampf zwischen Oben und Unten, Macht und Gehorsam zurückzukehren. Es wird immer Ziel- und Wertekonflikte geben, wo Menschen mit Menschen zusammen arbeiten, doch was, wenn nicht diese Krise, hätte uns anders lehren können, dass wir auch alle gleichsam in einem Boot sitzen und es ausschließlich gemeinsam steuernd voranbringen können?

Alles kann, nichts muss: Büro, Homeoffice, Hybrid-Modelle

Geht es jetzt wirklich um den medialen Aufschrei, dass die Corona-Homeoffice-Pflicht ein Ende hat und – ach du Schreck – wir uns wieder neu an ein Arbeiten in Büros gewöhnen müssen? Geht es jetzt wirklich um die harte Verhandlung und am Ende wieder ein neues Gesetz, wieviele Tage Büro oder Homeoffice für wen in welchen Branchen definiert werden? Und ist es jetzt entscheidend, wieviel Raummiete sich durch ausgeklügelte Montag-bis-Mittwoch-Hybrid-Modelle einsparen lässt? Typisch Deutschland, liegt es mir auf der Zunge, zu schreiben.

Ich habe in diesem Krisen-Jahr wahnsinnig viele Menschen erlebt, die ihre berufliche Situation stark hinterfragt haben. Sie sind auf Distanz zu ihren Jobs ins Denken gekommen und wie sich in den letzten Monaten gezeigt hat, war mein Beitrag zur „Neuorientierung in der Krise“ im April letzten Jahres erst der seichte Anfang. Viele Menschen – und hierin sehe ich auch einen großen Mehrwert der Krise – sind sich über ihre Werte und Ziele im Leben und Beruf klarer geworden und können so auch klarer zum Ausdruck bringen, was ihnen im Beruf und bei der Zusammenarbeit in Teams oder Projekten wirklich wichtig ist. Viele haben diese Erkenntnisse bereits genutzt und in ihrem Beruf etwas verändert, die große Wechselwelle wird vermutlich im Herbst folgen.

Jetzt ist die Chance, Arbeit auf eine höhere Stufe zu heben

Ich würde mir wünschen, dass diese wertvollen Erkenntnisse und Erfahrungen auf beiden Seiten jetzt nicht einfach so verpuffen, indem wir zurück im Büro zum Tagesgeschäft übergehen. Es ist wichtig, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Führungskräfte und ihre Mitarbeiter:innen sowie auch Kolleginnen und Kollegen im Team genau jetzt hierüber austauschen und sich bewusst erlauben, sich auch die Zeit dafür zu nehmen, gemeinsam auf Augenhöhe und individuell passend zum Entwicklungsstand einer Organisation jene Arbeitszeit/Arbeitsort-Modelle zu entwickeln, die ökonomisch Ertrag und Wachstum generieren sowie auch attraktiv und gesund für jene Menschen sind, die sich entscheiden, in dieser Organisation zu arbeiten.

Wer stattdessen wie gewohnt nur auf Recht und Gesetz setzt – und dies gilt für beide Seiten, der verspielt die Chance, aus der Krise durch die Veränderung auf ein höheres Entwicklungsniveau zu gelangen. Es ist gut, dass die Homeoffice-Pflicht jetzt ein Ende hat. Denn es ist ab jetzt ein guter Zeitpunkt – in der Hoffnung, das Virus macht uns keinen Strich mehr durch die Rechnung, um auf Basis der noch frischen Erfahrungen aus den letzten Monaten gemeinsam an neuen Formen gesünderer Zusammenarbeit zu arbeiten. 

Was ist Eure Meinung zum Thema? Brauchen wir auch weiterhin ein Homeoffice-Gesetz und was sind gute Arbeitsmodelle für die Zukunft? Wie geht Euer Arbeitgeber mit dem Thema Homeoffice und Rückkehr ins Büro aktuell um? 

Wer schreibt hier?

Dr. Bernd Slaghuis
Dr. Bernd Slaghuis

Karriere- und Business-Coach, Dr. Bernd Slaghuis

für Job & Karriere, berufliche Neurorientierung, Bewerbung

Karriere ist heute mehr als nur "höher, schneller, weiter". Seit 2011 habe ich über 1.800 Angestellte bei ihrem nächsten Schritt im Beruf begleitet. Von der Neuorientierung und Bewerbung bis zum Onboarding. Meine Erfahrungen teile ich hier als XING Insider, auf meinem Blog und als SPIEGEL-Kolumnist.
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