Mehr Kopfarbeit, weniger Arbeitszeit? Warum die 4-Tage-Woche Unsinn ist
In Zukunft wird uns Arbeit noch intensiver mental fordern. Regelmäßige Pausen zur „kognitiven Hygiene“ werden wichtiger. Warum die 4-Tage-Woche keine gute Antwort auf mehr Kopfarbeit ist und wie es gelingt, Arbeit in Zukunft gesünder zu leben.
Bis 2025 werden Maschinen erstmals anteilig mehr Arbeitsschritte erledigen als Menschen, so eine aktuelle Prognose des Weltwirtschaftsforums. 75 Mio. Arbeitsplätze werden geschätzt bis 2022 von Technik verdrängt werden, im Gegenzug könnten 133 Mio. neue Funktionen entstehen. Ein Blick in die Top 10 der zunehmenden und rückläufigen Berufe zeigt: Mehr Arbeit für kreative Innovatoren, Software- und System-Entwickler, Spezialisten, Change-Gestalter sowie flexible Alltagsmanager. Tätigkeiten mit hohem Routine- oder geringem Kreativ-Anteil werden in Zukunft weiter abnehmen.
Ein Trend, der alles andere als überraschend neu ist, sondern seit der ersten industriellen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts voranschreitet und heute als „Industrie 4.0“ seine vierte Epoche durchläuft. Mit der Verschiebung der Arbeitsteilung vom Menschen auf die Maschine ging immer auch ein Wandel der Arbeits- und Lebensbedingungen einher. Besonders deutlich wird dies in der Entwicklung der Wochenarbeitszeit von 60 Stunden im Jahr 1900 auf durchschnittlich 37,7 Stunden heute. Mehr Kopfarbeit, weniger Arbeitszeit – eine Gleichung, die auch in Zukunft noch gilt?
„8 Stunden Arbeit, 8 Stunden Freizeit, 8 Stunden Schlaf“
Was Sozialreformer Robert Owen bereits Mitte des 19. Jahrhunderts mit dieser plakativen Formel beschrieb, wurde mit dem Achtstundentag in Deutschland 1918 gesetzlich festgeschrieben. 1955 setzten die DGB-Gewerkschaften mit der Kampagne „Samstag gehört Vati mir“ die Einführung der 5-Tage-Woche und damit die erneute Reduktion der Arbeitszeit zugunsten von Freizeit durch.
Sprechen wir heute über die 4-Tage-Woche und damit rechnerisch über eine 32-Stunden-Woche, dann setzt sich der Trend Freizeit für Kopfarbeit weiter fort. Doch ich bin der Meinung, wir erliegen einem Denkfehler, die Vergangenheit mit der gleichen Logik in die Zukunft fortzuschreiben, um Arbeit gesund zu gestalten.
Die Work-Life-Balance ist tot, Arbeitszeit ist Lebenszeit
8 Stunden arbeiten, 8 Stunden leben und 8 Stunden schlafen war so lange eine gesunde Regel, wie Arbeit und Leben voneinander getrennt waren. Man ging zur Arbeit, verrichte sein Tagwerk und machte Feierabend. Mein Vater kam früher oft spät abends aus dem Büro, doch ich erinnere mich nicht daran, dass er Arbeit mit nach Hause brachte.
Mit Einzug mobiler Kommunikationstechnologien in den letzten 20 Jahren und parallelem Anstieg von grenzenloser Kopfarbeit hat Arbeit immer mehr Raum im Privatleben eingenommen und damit die bisherige Grenze zweier Lebensbereiche aufgehoben. Eine Veränderung, die den Rahmen von Arbeit und auch Leben so grundlegend geprägt hat, dass es in Zukunft nicht mehr ausreichen wird, nur neue Arbeitszeitmodelle oder verbesserte Rahmenbedingungen für Arbeit zu schaffen.
Mit dem Modell der „Work-Life-Balance“ haben wir einige Jahre versucht, die Kraft raubende Arbeitszeit in der einen mit der erholsamen Lebenszeit in der anderen Waagschale in Harmonie zu bringen und so eine neue künstliche Grenze zu ziehen. Doch selbst dieses Ziel ist heute eines unserer stärksten Stressoren, schließlich ist „Keine Zeit!“ längst nicht mehr nur im Beruf, sondern auch im Freizeit gestressten Privatleben zur belastenden Daueransage geworden.
Arbeitszeit ist Lebenszeit, es gibt keine zwei Seiten mehr aus gut und böse, Energie spendend und Kraft raubend. Stattdessen muss es in Zukunft vielmehr darum gehen, Arbeit individuell erlebbar und persönlich so zu gestalten, dass sie jedem von uns ausreichend Energie für ein leistungsfähig gesundes Leben gibt. Und ein Leben zu führen, das uns von Kopfarbeit erholen lässt, neuen Freiraum für kreatives Denken im Beruf ermöglicht und alles das mehrheitlich erfüllt ist, was uns heute und in Zukunft wirklich wichtig ist.
Investition in "Feelgood" allein macht Arbeit nicht gesund
Manche Manager glauben, ihren Mitarbeitern Gutes zu tun, wenn sie Entspannungsmassagen verschenken, die Hotline zum Therapeuten bezahlen, Obst und Getränke verteilen und bunte Vergnügungsecken mit Kickertischen und Hängematten einrichten sowie mit schicken Großraumbüros und mobilen Technik-Spielereien den Austausch zwischen Menschen fördern. Keine Frage, dies alles ist nett und kein Arbeitnehmer wird freiwillig „Nein Danke!“ sagen, doch wie sich vielerorts inzwischen zeigt, kehrt sich manche anfänglich glänzende Feelgood-Idee heute sogar ins Gegenteil:
Arbeitnehmer, die in Großraumbüros mit Kopfhörern abgeschirmt zwischen Design-Schallschutzwänden stumm ihre Arbeit verrichten und Kickertische, die von mittendrin-jubelnd nun genervt in die hinterste Ecke verbannt wurden. Gesundheitsprogramme, die nur noch auf der Karrierewebsite stattfinden, weil Frau Müller keine Lust hat, morgens um 8:00 gemeinsam mit Kollege Maier Gymnastik zu machen. Oder der vegane Bio-Kantinentag, der nach vier Wochen Arbeiter-Protest doch wieder gegen Currywurst-Pommes verloren hat. Die Sache mit der schönen neue Arbeitswelt ist nicht so einfach, wie es NewWork-Berater, Obstlieferanten und Büromöbelhersteller verkaufen.
83 Prozent der befragten XING Mitglieder gaben in der Trendstudie an, dass ihre Arbeitsbelastung durch die Digitalisierung heute bereits zugenommen hat. Pausen und bewusste Auszeiten zur Erholung gönnen sich jedoch nur weniger als die Hälfte.
Wie kann das sein, wo Arbeitgeber doch so viel investieren, um Arbeit besser zu gestalten? Feelgood auf Verordnung ist offensichtlich keine wirksame und vor allem nachhaltige Lösung für die Zukunft als Antwort auf mehr Kopfarbeit.
Die 4-Tage-Woche ist nett, aber Zukunftsdenke von gestern
Ich frage Sie: Was würden Sie bei einer 4-Tage-Woche am geschenkt freien 5. Tag tun? Den überfälligen Arzttermin einplanen, die Wäsche von Samstag auf Freitag schieben oder endlich die Präsentation für das Strategiemeeting erstellen, zu der Sie im Büro niemals kommen? Mal ehrlich, wie sehr würde eine 4-Tage-Woche tatsächlich dazu beitragen, Ihren Kopf so richtig zu entspannen?
Die Idee der 4-Tage-Woche fußt ebenso auf der alten Trennung zwischen Arbeit und Leben. Doch gerade Kopfarbeit geschieht jederzeit und überall. Den Kopf einfach einen ganzen Tag lang mehr frei von Arbeit zu machen ist eine im wahrsten Sinne des Wortes un-sinnige Idee gestriger in der Zeit von 'gutem Leben gegen böse Arbeit' groß gewordener Manager, Politiker und Gewerkschaftsvertrerter und für die Zukunft der Arbeit nicht nur realitätsfremd, sondern aus meiner Sicht auch langfristig wirkungslos, wenn es um Anreize für mehr Erholungszeit für gesündere Kopfarbeit geht.
Für seine "Mental-Hygiene" ist jeder selbst verantwortlich!
Ich weiß, der Begriff der „Psychohygiene“ hat eine lange und teilweise auch dunkle Geschichte, doch das Bild der "Mental-Hygiene" erscheint mir zweckmäßig für meinen folgenden Denkansatz: Denn ich bin der Meinung, Hygiene im Kopf ist ebenso Teil unserer Körperhygiene. Es ist heute selbstverständlich für uns, dass wir uns regelmäßig waschen und unseren Körper pflegen. Spätestens dann, wenn es beginnt zu müffeln, werden die meisten von uns sofort aktiv. Doch wenn es im Kopf raucht und es uns wortwörtlich stinkt, dann nehmen wir es mit der „Hygiene“ scheinbar nicht so ernst. Schlißelich dürfte allen in der XING-Studie Befragten bewusst sein, dass sie sich eigentlich mehr Auszeiten und Erholung im Kopf gönnen müssten – sie tun es jedoch nicht.
Ich habe den Eindruck, dass wir immer mehr vergessen und inzwischen mitunter verlernt haben, nicht nur regelmäßig äußere, sondern auch innere Hygienearbeit zu betreiben: Pausen zu machen, wenn es im Oberstübchen qualmt. Ausgleich zu kreativem Denken etwa durch Sport zu schaffen. Kopfarbeit immer dann durch Freizeit zu unterbrechen, wenn es sinnvoll ist. Mehr von dem zu tun, was uns Kraft gibt und die Akkus auflädt, sobald uns Arbeit oder Leben Energie genommen haben.
Es ist zu leicht, Arbeitgeber oder Chefs allein dafür verantwortlich zu machen, ob es uns im Beruf gut oder schlecht geht. Management, Führung und Teams können Rahmenbedingungen für gesundes Arbeiten schaffen, doch Mental-Hygiene kann nur in unserer eigenen Verantwortung liegen. Mehr Selbstverantwortung jedes einzelnen als "Hygiene-Chef" des eigenen Lebens wird dazu beitragen, Kopfarbeit in Zukunft durch die bewusste Erlaubnis für Erholungszeit gesund zu halten.
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Vor 15 Jahren gab es weder soziale Medien noch Smartphones, agiles Arbeiten war hierzulande unbekannt. Unvorstellbar, was in den kommenden 15 Jahre alles Neues entstehen und wie sich unsere Arbeitswelt entwickeln wird! In welchen Berufen werden wir künftig überhaupt arbeiten – und wie? Wie verändert die künstliche Intelligenz den Recruiting-Prozess? Wird die Arbeitswelt von morgen gerechter sein – oder tiefer gespalten?
Zusammen mit dem Zukunftsforscher und Gründer des Trendbüros, Professor Peter Wippermann, hat XING 15 Trends untersucht, die Arbeitnehmer und Unternehmen betreffen und die Gesellschaft verändern werden. Unsere Prognosen basieren auf der wissenschaftlichen Expertise des Trendbüros, einer repräsentativen Umfrage unter den XING Mitgliedern und E-Recruiting-Kunden sowie aus unserer Erfahrung als Vorreiter beim Thema New Work.
Die 15 Trends lassen wir ab dem 5. November täglich auf XING diskutieren – auf XING Klartext, von unseren XING Insidern und im XING Talk. Alle Beiträge finden Sie gesammelt auf einer News-Seite.
• In der Woche ab dem 5. November dreht sich alles darum, was sich für den einzelnen Arbeitnehmer ändert.
• Ab dem 12. November diskutieren wir eine Woche lang die Folgen des Wandels für Unternehmen.
• Eine Woche später, ab dem 19. November, thematisieren wir, wie sich unsere Gesellschaft verändern wird.
Bei Fragen, Feedback und Ideen erreichen Sie die Redaktion von XING News unter klartext@xing.com. Wir freuen uns auf spannende und hitzige Diskussionen!
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