Ex-Häftling: „Wir werden zu einer Freiheitsstrafe verurteilt – nicht zu Zwangsarbeit“
In deutschen Gefängnissen sitzen aktuell rund 60.000 Menschen. Viele von ihnen müssen arbeiten – ob sie wollen oder nicht. Arbeit soll Struktur geben, Verantwortung fördern und beim Neustart draußen helfen. In der Theorie klingt das gut. Doch in der Praxis läuft es anders.
In der neuen Folge von Work Exposed sprechen Frederike Höhn und Lucas Baur mit Maximilian Pollux – Ex-Häftling, Antigewalttrainer, SPIEGEL-Bestsellerautor und Podcaster. Zehn Jahre saß er im Gefängnis. Heute kämpft er dafür, dass Jugendliche gar nicht erst dort landen – und spricht offen darüber, warum Arbeit hinter Gittern nicht automatisch Resozialisierung bedeutet.
👉 Jetzt reinhören 🎧 Spotify | 🎧 Apple Podcast | 🎧 Amazon Music | 🎧 Podimo
Pflichtarbeit hinter Gittern – doch es gibt nicht genug Stellen …
Kaum jemand weiß: Für Erwachsene gilt in Haft Arbeitspflicht. Wer nicht arbeitet, riskiert Sanktionen:
weniger Einkaufsgeld,
Freizeit- und Sportverbot,
Fernsehverbot,
bis hin zur kompletten Freizeitsperre.
Klingt nach Disziplin. Doch laut Pollux liegt genau hier das Problem: „Das Gesetz verpflichtet Gefangene zur Arbeit, aber es gibt gar nicht genug Arbeitsplätze für alle. Das heißt, die Pflicht existiert – aber das Angebot fehlt.“
In vielen Justizvollzugsanstalten ist die Zahl der Arbeitsstellen begrenzt. Wer keinen Platz bekommt, hat Pech. Wer sich verweigert, soll sanktioniert werden. Doch wie soll man Arbeit verweigern, wenn es keine Arbeitsplätze gibt? Ein Paradox, das kaum thematisiert wird – und laut Pollux wie eine Pflicht ohne Plan wirkt.
🎧 Jetzt reinhören, wenn Du wissen willst, welche Sanktionen wirklich durchgesetzt werden – und wo das System seine eigenen Regeln unterläuft. 🎧 Spotify | 🎧 Apple Podcast | 🎧 Amazon Music | 🎧 Podimo
1,82 Euro pro Stunde – und keine Rente
Noch brisanter wird es, wenn es um das Thema Arbeitslohn geht. Gefangene verdienten noch vor wenigen Jahren nur rund 1,82 Euro die Stunde – bei Vollzeitarbeit. Nach einer Reform durch das Bundesverfassungsgerichts liegt der Stundenlohn seit Juli 2025 bei durchschnittlich 3,14 Euro.
Was viele nicht wissen – hinzu kommt:
Renteneinzahlungen gibt es nicht. Wer zehn Jahre in Haft arbeitet, hat in dieser Zeit keinen einzigen Rentenpunkt gesammelt.
Ein Teil des Lohns wird automatisch gesperrt: 3/7 dürfen Gefangene für Einkäufe nutzen – der Rest wird als sogenanntes Überbrückungsgeld gespart.
Pfändungen schlagen zu. Alles über 1600 Euro wird direkt nach der Entlassung gepfändet – Schulden, Gerichtskosten, Schmerzensgeld.
Pollux sagt es deutlich:
Man wird zu einer Freiheitsstrafe verurteilt – nicht zu Zwangsarbeit. Trotzdem werden Menschen gezwungen zu arbeiten, ohne faire Bezahlung und ohne Rentenversicherung. Das ist nicht nur demotivierend, es ist auch widersprüchlich.Maximilian Pollux
Für ihn ist klar: Wer arbeitet, sollte sich dadurch wenigstens etwas aufbauen können, um nach der Haft ein neues Leben zu beginnen. Sonst bleibt Arbeitspflicht zum Zweck der Resozialisierung ein leeres Konzept.
Ausbildung als echter Wendepunkt
Trotz allem gibt es auch Lichtblicke. In vielen JVAs können Gefangene heute eine Ausbildung machen – meist im Handwerk: Schreinerei, Schlosserei, Malerei, Elektrik. Pollux sagt dazu heute: „Das Wichtigste, was die Anstalt tatsächlich für einen Gefangenen tun kann, ist, jemandem ohne Ausbildung eine Ausbildung zu verschaffen.“
Er selbst weigerte sich jahrelang, einfache Tätigkeiten zu übernehmen. Erst als die Bürokaufmann-Ausbildung angeboten wurde, änderte sich das:
Unterricht direkt in der Anstalt,
Lehrer:innen aus der Berufsschule,
echte Prüfungen und Zertifikate,
ein Abschluss, der draußen etwas zählt.
Solche Programme seien selten – und oft auf wenige Teilnehmende beschränkt. Viele bekommen diese Chance nie, erzählt Pollux.
🎧 Jetzt reinhören, wenn Du wissen willst, wie Ausbildung im Gefängnis abläuft – und warum sie laut Pollux der Schlüssel zur Resozialisierung ist: 🎧 Spotify | 🎧 Apple Podcast | 🎧 Amazon Music | 🎧 Podimo
Wenn Konzerne in der Zelle mitverdienen
Ein besonders heikles Thema: Fremdfirmen in Haft. In vielen JVAs arbeiten Gefangene für externe Unternehmen – von Autoherstellern bis Hightech-Betrieben. Draußen würde derselbe Job 25 bis 30 Euro pro Stunde bringen. Drinnen maximal 3,14 Euro – wenn überhaupt. Pollux findet klare Worte:
Wenn eine milliardenschwere Firma im Gefängnis für Billiglöhne produzieren lässt und das als soziale Tat verkauft, dann frag ich mich: Ist das wirklich im Sinne der Gefangenen oder eine sehr geschickte Form der Ausbeutung?Maximilian Pollux
Das Argument vieler Anstalten: Gefangene sollen Struktur lernen, nicht Geld verdienen. Doch laut Pollux verfehlt das den Punkt: „Wir nehmen den Leuten die Freiheit – das ist die Strafe. Alles darüber hinaus sollte auf Wiedereingliederung zielen, nicht auf Lohndumping.“ Die Debatte ist inzwischen auch rechtlich angekommen.
2023 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass zu niedrige Haftlöhne verfassungswidrig sind, weil sie das Grundrecht auf Resozialisierung verletzen. Bis Juni 2025 müssen die Bundesländer ihre Modelle anpassen. Mehr als 3 Euro pro Stunde sind geplant – immer noch weit weg vom Mindestlohn, aber ein Anfang.
Systemfehler mit Ansage
Pollux erklärt im Gespräch, dass das System seiner Ansicht nach mehr Baustellen als gute Lösungsansätze hat. Zu seinen größten Kritikpunkten zählen:
Arbeitspflicht ohne Arbeitsplatzgarantie: Selbst wer arbeiten will, bekommt oft keinen Platz.
Die Löhne und begrenzten Möglichkeiten, Geld als Absicherung anzusparen, bieten keine echten Perspektiven für die Zeit nach der Haft.
Keine Vorsorge: keine Rentenbeiträge, keine Absicherung.
Zu wenig Ausbildungsplätze: Qualifizierte Lernplätze sind rar.
Wenig Perspektive: Nach der Entlassung warten Schulden und Wohnungsnot.
Und das, obwohl Studien zeigen, dass erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt das wirksamste Mittel gegen Rückfälle ist. Trotzdem liegt die Rückfallquote in Deutschland bei 43 Prozent nach drei Jahren Haft, bei Langzeitgefangenen sogar bei 66 Prozent. Das bedeutet: Zwei Drittel werden wieder straffällig. Pollux sieht darin keinen Zufall, sondern ein Systemversagen: „Wir sagen, Arbeit sei der Schlüssel zur Resozialisierung – aber wir behandeln sie wie eine Strafe. Das passt nicht zusammen.“
🎧 Jetzt reinhören 🎧 Spotify | 🎧 Apple Podcast | 🎧 Amazon Music | 🎧 Podimo
Warum Strafe nicht gleich Rache ist
Ein weiterer Punkt, den Pollux anspricht, ist der Unterschied zwischen Gerechtigkeit und Vergeltung. Er sagt:
„Natürlich verstehe ich, dass viele sagen: Wer Verbrechen begeht, soll leiden. Aber für mich ist es eine liegen gelassene Möglichkeit, nicht zu sagen: Wir nehmen Dir zehn Jahre Deine Freiheit, aber in der Zeit wollen Dir zeigen, dass es auch anders geht. Du sollst nicht noch verbitterter werden und uns zehn Jahre auf der Tasche liegen, sondern uns als Gesellschaft etwas zurückgeben. Und dafür müssen wir die Leute ausbilden, dafür müssen wir sie selbstständig machen. Dafür müssen wir ihnen zeigen, dass faire Bezahlung sich gut anfühlt."
Resozialisierung bedeutet nicht Nachsicht, sondern Verantwortung mit Perspektive. Wer in der Haft lernt, Verantwortung zu übernehmen, wird sie draußen seltener wieder verlieren. Und dafür braucht es faire Chancen, so Pollux.
Neustart mit Hindernissen
Doch Pollux verrät uns in der Folge auch: Selbst wer alles richtig macht, steht nach der Entlassung oft vor dem Nichts. Keine Wohnung, keine Arbeit, kein Konto. Das sogenannte Übergangsmanagement soll helfen – also eine Art Brücke zwischen Haft und Freiheit. Ziele sind:
frühzeitiger Kontakt zu Arbeitgeber:innen,
Planung von Qualifizierungen,
Vorbereitung auf Bewerbung und Alltag,
finanzielle und soziale Stabilität nach der Entlassung.
Doch auch hier hapert es. Laut Pollux fehlen Personal, Geld und Koordination. Und wer nach zehn Jahren Gefängnis plötzlich auf Wohnungssuche ist, trifft auf einen Markt, der kaum verzeiht. „Ich wollte nur ein Zimmer – ohne Möbel, ohne Luxus. Aber will schon an einen Ex-Häftling vermieten?“ Das führt dazu, dass viele schon in den ersten Monaten nach der Entlassung wieder scheitern. Die ersten 12 bis 15 Monate gelten als die kritischste Phase.
🎧 Jetzt reinhören 🎧 Spotify | 🎧 Apple Podcast | 🎧 Amazon Music | 🎧 Podimo
Die große Frage: Wen soll Arbeit im Knast eigentlich retten?
Das Gespräch mit Maximilian Pollux zeigt: Das aktuelle System hilft weder den Gefangenen noch der Gesellschaft. Denn was passiert, wenn Menschen ohne Perspektive, ohne Rente und ohne Vertrauen zurückkehren? Die Antwort liegt auf der Hand. Vielleicht braucht es also nicht härtere Strafen, sondern klügere Wege zurück in ein rechtskonformes Leben. Arbeit kann Teil davon sein – aber nur, wenn sie fair ist und befähigt.
🎧 Jetzt reinhören, wenn Du das ganze Gespräch hören willst – 🎧 Spotify | 🎧 Apple Podcast | 🎧 Amazon Music | 🎧 Podimo
Diese Artikel könnten Dich ebenfalls interessieren:
Drogen im Job: Was wir heimlich schlucken, wenn Kaffee nicht mehr kickt
Vitamin B ist kein Betrug! Wie Du am besten netzwerkst
Fühlst Du Dich wie ein Job-Betrüger? Warum das Imposter-Syndrom so viele Menschen betrifft
