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Mindestlohn 70.000 US-Dollar bei Gravity. 43 Prozent der Führungskräfte sind weiblich bei Vaude. Neue Führung als Dienst

Neue Berufe wie Tech-Tourguides und Empathistinnen könnten Trends werden. Eine erhöhte Produktivität mit 4-Tage-Arbeitswochen zeigen bereits die Erfahrungen in diversen Branchen, dieser Trend wächst. Die Bäckerei Kolls hat Kunden und Verkäufer gestrichen und ersetzt, nun macht sie mehr Umsatz als zuvor. Warum sind bewährte Modelle wie "3 plus 3" und "Buurtzorg" in der Pflege nicht verbreiteter, obwohl sie nachweislich Pflegekräfte gesund und in der Pflege halten. Und warum ist Fachkräftemangel nicht so peinlich wie Kundenmangel?

Fragen und Trends führen zu einer neuen Haltung unter Führungskräften in Unternehmen.

Die ersten Diener im Unternehmen

Nicht nur Kundinnen und Kunden, auch Angestellte haben Wünsche und Bedürfnisse. Wenn sie ihre Arbeitskraft einem Unternehmen großzügig zur Verfügung stellen, erwarten sie von ihren Vorgesetzten ebenfalls Großzügigkeit und die Bereitschaft, sich in den Dienst des Teams zu stellen, statt auf Hierarchien und Privilegien zu pochen. Friedrich der Große, König von Preußen, sagte einmal: „Ich bin der erste Diener des Staates.“ Dienende Führungskräfte sorgen dafür, dass es dem Unternehmen gut geht, weil es den Menschen im Unternehmen gut geht.

Eine Frau geht zu ihrem Chef, weil sie kündigen will. Der Arbeitgeber ist überrascht: „Was gefällt Ihnen bei uns nicht?“ Der Mitarbeiterin gefällt alles, sie arbeitet sehr gerne für das Unternehmen. Sie will kündigen, um auf Weltreise zu gehen. Der Arbeitgeber will die Angestellte gerne behalten. Er weiß um ihren Wert für das Unternehmen. Er bietet ihr an: „Wir zahlen Ihnen den vollen Lohn, so lange, wie Sie verreisen. Und wir geben Ihnen eine Arbeitsplatzgarantie. Wenn Sie zurück sind, können Sie wieder bei uns arbeiten. Deal?“ – „Deal!“

Dienende Arbeit setzt auf Freiheiten, und Freiheiten setzen Großzügigkeit und gegenseitiges Vertrauen voraus. Anna Yona, Gründerin der Schuhfirma Wildling Shoes, sagt im Handelsblatt:

„Wenn ich kontrollieren muss, dass die Leute arbeiten, ist grundsätzlich was falsch.“

Damit Führungskräfte können sich und ihre Arbeit immer wieder infrage stellen: Dient mein Handeln dem Unternehmen? Diene ich meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern?

Abends aufrechter

Bodo Janssen, Chef der ostfriesischen Upstalsboom-Hotels, realisierte erst durch eine Mitarbeiterbefragung, wie unbeliebt er als Vorgesetzter war. In Schulnoten bekam er eine fünf bis sechs. Auf die Frage „Was brauchst du, um besser arbeiten zu können?“ hatte ein Angestellter geantwortet: „Einen anderen Chef als Bodo Janssen“. Janssens Ego – einst so groß wie eine Turnhalle – crashte auf die Größe einer Erbse. Es folgte eine komplette Kehrtwende. Janssen zog sich in ein Kloster zurück, wo er zu einer neuen Haltung zum Leben und zur Arbeit fand. Danach veränderte er die Unternehmenskultur. Was so einfach klingt, war ein langer Prozess. Nach mehr als einem Jahrzehnt des Trainings war die Unternehmenskultur rundum erneuert.

Heute sagt Janssen: „Sinn- und menschenorientierte Führung erkennen wir an Mitarbeitern, die abends aufrechter nach Hause gehen als sie morgens gekommen sind. Bestenfalls ist es nicht die Führungskraft, die die Menschen aufrichtet, sondern die starke Führungskraft unterstützt die Menschen dabei, sich selbst aufzurichten.“

Mit Auszubildenden macht der Chef persönlich Bergtouren auf den Kilimandscharo. So erleben sie gemeinsam Verantwortung und überwinden Grenzen. Janssen wurde zum Vorreiter für eine neue Haltung und Arbeitskultur. Sie macht Führungskräfte bei Upstalsboom zu Dienstleistern der 650 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Menschlich haben alle gewonnen. Und wie sieht es mit dem Erfolg aus unternehmerischer Sicht aus? Die Upstalsboom-Hotels haben sogar im Corona-Jahr 2021 den Umsatz gesteigert. Wertschätzung ist ein Gewinn – menschlich und unternehmerisch.

Mindestlohn 70.000 US-Dollar

Dan Price beschloss 2016, allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern seines Unternehmens Gravity einen Mindestlohn von 70.000 US-Dollar pro Jahr zu bezahlen. Sein eigenes Gehalt von einer Million Dollar strich er und ersetzte es auch mit dem neuen Mindestlohn. Die Medien waren sich einig, dass das Experiment als Fiasko enden würde. Fünf Jahre nach dem Start des Experiments hat sich die Anzahl seiner Angestellten verdoppelt, der Umsatz wurde verdreifacht. Auffällig ist auch die Familienplanung der Kolleginnen und Kollegen. Zehnmal mehr Babys als zuvor wurden geboren. „Durch den hohen Lohn hatten wir die Sicherheit, eine Familie gründen zu können“, erzählt eine Mitarbeiterin. Dan Price hat Unsicherheit gestrichen und durch finanzielle Sicherheit ersetzt.

Wie sieht eine interne Dienstleistung der Führungskräfte in deiner Branche aus? Von welchen Dienstleistungen träumst du? Welche Tätigkeiten würdest du in der Führung streichen und welche steigern? Wertschätzung führt zu Loyalität und Treue von Angestellten. Mit klaren Unternehmensprinzipien lässt sich diese Wirkung noch steigern.

Marken leben Werte

Das Bekleidungsunternehmen Patagonia investiert in den Verkauf von Second-Hand-Kleidung, die es von Kunden zurück- und dann weiterverkauft. Dass es dadurch weniger Neuwaren absetzen könnte, nimmt es in Kauf. Denn mit Aktionen und Angeboten, die den Nachhaltigkeitsgedanken ernst nehmen, gewinnt Patagonia seine treuen Kunden, die auch in Zeiten des Wandels loyale Fans bleiben. Patagonia entwickelt sich permanent weiter, ohne klassisch wachsen zu wollen.

  • Patagonia stoppte 2020 Werbung auf Facebook wegen dort wachsendem Hate Speech.

  • Die Black-Friday-Umsätze werden gespendet, 2021 wurden an einem Tag 10 Millionen US-Dollar geteilt.

  • Ein Prozent des Umsatzes werden an Umweltinitiativen gespendet, das sind jährlich 74 Millionen US-Dollar. ,

  • Geschäftsführer Ryan Gellert sagt: Für diejenigen Unternehmen, die den Klimawandel nicht aktiv bekämpfen, gibt es einen speziellen Platz in der Hölle.

Auch Vaude, ein deutsches Unternehmen für Outdoor-Ausrüstung, wurde zu einem ökologischen und sozialen Vorbild. Seit 2008 arbeitet Vaude an dem Ziel, eine grüne Firma zu werden, die Nachhaltigkeit systemisch lebt.

  • „Wir leben Nachhaltigkeit, die alles durchwebt. Alle arbeiten mit Haltung an diesem Ziel. Auch in den Lieferketten, wo wir neue Antworten erringen mussten, weil es keine Schablonen gab. Wir haben eine Kultur geschaffen, in der alle an Lösungen kreativ mitwirken können“, sagte Chefin Antje von Dewitz .

  • Kunden können auf der Website nachvollziehen, wo Vaude welche Artikel unter welchen Bedingungen produziert.

  • Nachhaltigkeit umfasst auch Lebensqualität für die Beschäftigten. Flexible Arbeitszeitmodelle und ein eigener Kindergarten schaffen den Rahmen für einen Frauen-Anteil von 60 Prozent in der 530-köpfigen Belegschaft, und 43 Prozent der Führungskräfte sind weiblich.

461 Geschichten und konkrete Beispiele, was Unternehmen bereis tun, beschreibe ich in meinem neuen Buch ROCK YOUR WORK. Das Buch gibt es als Paperback, Hardcover und E-Book bei Tredition, Thalia, Hugendubel, Lesejury, Becks, Amazon und kann in jeder Buchhandlung bestellt werden.

Martin Gaedt schreibt über Provotainment, Leben und Arbeit, cleveres Recruiting, Wirtschaft & Management

Martin Gaedt ist Autor von "4 TAGE WOCHE", "Rock Your Work", "Rock Your Idea" und "Mythos Fachkräftemangel". Er ist Provotainer und hat seit 2014 in 650 Keynotes mehr als 100.000 Gäste begeistert, provoziert und entertaint. Seit 1999 gründet er Unternehmen und stellt 44 Fragen, der Anfang des Neuen.

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