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Karoline Grabowska/Pixabay

Zerrissene Leben: Warum wir unsere Geschichte nicht vergessen dürfen

„Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“ (Christa Wolf)

Nicht nur, was in der Vergangenheit geschehen ist und wie es geschehen ist, sollte nicht vergessen werden, sondern auch, wer unsere Väter und Mütter waren, und wie sie auf verschiedene Ereignisse reagiert haben. Im Fokus der Generationendebatte steht heute vor allem die junge Generation Y und Z, die kaum im historischen Kontext betrachtet wird. Um sie zu verstehen, braucht es aber auch einen historischen Blick, der uns hilft, Tendenzen und Entwicklungen besser wahrzunehmen und urteilsfähig zu sein. Vor allem sollte bei der Nachkriegsgeneration (1925–1940) angesetzt werden, die ein zerstörtes und demoralisiertes Land vorfand. Das schweißte die jungen Menschen zusammen, die vor allem überleben wollten. Viele von ihnen haben kaum über ihre Kriegserlebnisse gesprochen. Aber es wurde auch nicht nach ihren Traumata gefragt. Es gab noch nicht die Einstellung, dass sie verarbeitet werden müssen.

Sie haben zwischen Überleben und Neuanfang viel mit sich selbst ausgemacht.

Der Schauspieler Hardy Krüger, Jahrgang 1928, setzt in seiner Erzählung „Abschied“, enthalten in „Ein Buch von Tod und Liebe“, nicht nur seiner Jugendliebe Tina ein literarisches Denkmal, sondern beschreibt auch den Abschied von seiner Jugend: Er war siebzehn und seine Freundin kaum zwei Jahre älter. Beide verliebten sich im Winter 1943 - als Berlin im Bombenhagel zugrunde ging. Im Luftschutzkeller wurde provisorisch das Weihnachtsfest mit einem kleinen Tannenbaum vorbereitet, Tina ging nach oben in die Wohnung, um Geschenke zu holen: „Sie lief durch die Luftschutzschleuse zur Treppe. Ich sah ihr Haar aufleuchten, sah den Schein der Taschenlampe die Wand entlanglaufen, dann sprang das Licht die Treppe hoch, ich hörte Tinas Schritte --- und dann hörte ich den Schrei einer Bombe.“ Das war für den jungen Mann der Tod - und das Ende seiner Welt. Das Herz war ihm nicht schwer, wie es so oft heißt, sondern leicht. Er fühlte sich wie sein eigener Geist.

„Tina, die Leute sind wie große Uhren. Sie ticken sich durch die Zeit. Meine Uhr ist stehen geblieben.“ (Hardy Krüger)

Nach dem Krieg gibt es hinter der Fassade des Aufschwungs in fast jeder Familie solche Geschichten von zerrütteten oder verlorenen Leben. Das zeigt der Historiker Konrad H. Jarausch, Jahrgang 1941, in seinem Buch „Zerrissene Leben. Das Jahrhundert unserer Mütter und Väter“, in dem er über 80 Zeitzeugen zu Worte kommen lässt. Geboren während der Weimarer Republik, hat diese Generation den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg erlebt, aber auch die Nachkriegszeit (in BRD oder DDR) und die Wiedervereinigung.

Aus den persönlichen Geschichten lässt er in vielen Mosaiksteinchen eine kollektive Biografie des 20. Jahrhunderts entstehen. Im Fokus steht hier nicht die große Politik und Geschichte, sondern die menschliche Dimension. Dieser spät im Leben geschriebenen Rückschau mag zwar das Intime und die Frische von Tagebüchern oder Briefen fehlen, aber die Sachlichkeit hat auch viele positive Aspekte: Die Berichte, die gegen Ende eines Lebens abgefasst wurden, konzentrieren sich auf das Wesentliche und sind besonders aufrichtig.

Viele Reaktionen dieser Generation sind nur zu verstehen, wenn sie als verzweifelte Versuche betrachtet werden, eine Wiederholung solcher Katastrophen zu vermeiden. „Dass in der Nachkriegszeit so viel Wert auf Erfolg gelegt wurde, hat daher etwas Beschwörendes, als gelte es, sich die Gefahren vom Leib zu halten“, schreibt Jarausch. Damals waren alte Bindungen und Loyalitäten auf den Kopf gestellt. Im Chaos der Nachkriegsjahre war es deshalb auch schwer, den richtigen Beruf zu finden. Viele höhere Tätigkeiten erforderten eine Zusatzausbildung, die durch die Wiederherstellung traditioneller Normen und Standards erschwert wurde. Aufgrund der kriegsbedingten Reife der Berufseinsteiger waren, wie viele Geschichten im Buch belegen, Generationskonflikte mit Vorgesetzten unvermeidlich, die die autoritären Muster der Vorkriegszeit wieder einführen wollten.

Dieser Faden der Geschichte sollte heute nicht unberücksichtigt bleiben, wenn es um Generationendebatten und Zuschreibungen wie X, Y oder Z geht. Das ist nur das Ende des Alphabets.Worauf es wirklich ankommt, ist die Fähigkeit, alles in Zusammenhängen zu lesen und zu verstehen. Von Anfang an. Und zu zeigen, dass die Zukunft als Herausforderung alle Generationen gemeinsam tragen.

Weiterführende Informationen:

Resilienz der Generationen: Was Wirtschaft und Gesellschaft jetzt zusammenhält

Bunt statt grau: Generationenvielfalt in Unternehmen

Generation Mauerfall: Worauf es im Leben wirklich ankommt

Generationen für Nachhaltigkeit

Macht und Flachsinn: Warum die Generation Z auch Tiefsinnkultur braucht

Konrad H. Jarausch: Zerrissene Leben. Das Jahrhundert unserer Mütter und Väter. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2018)

Hardy Krüger: Ein Buch von Tod und Liebe. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2018.

Werner Neumüller: Gutes Klima: Warum Unternehmen einen Kompetenzmix aller Generationen brauchen. In: Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. Hg. von Alexandra Hildebrandt. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin, S. 115-127.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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