Vergesst Lebensläufe, lernt Menschen kennen
Warum Bewerber und Arbeitgeber besser über ihre gemeinsame Zukunft sprechen sollten, statt alte Abschlüsse, bisherige Jobwechsel und Lücken zu erklären. Lebensläufe sind Vergangenheit. Schaffen wir sie ab?
Der Zukunft ist die Vergangenheit egal.
Diesen Satz habe ich einmal in meiner Coaching-Ausbildung gelernt. Und so bin der Meinung, dass im Bewerbungsprozess zu viel über die Vergangenheit gesprochen wird, wo es doch um eine gute Zusammenarbeit in der Zukunft gehen soll. Während das Motivationsschreiben immer wieder in der öffentlichen Diskussion steht und seine Abschaffung gefordert wird – was ich für dumm halte, scheint der Lebenslauf im Bewerbungsprozess so sicher gesetzt zu sein, wie das Amen in der Kirche. Dabei sind Lebensläufe Vergangenheit pur – von heute bis zur Schulzeit.
Was sagt die Vergangenheit eines Arbeitnehmers über dessen echte Motivation und Eignung für eine Aufgabe in der Zukunft aus? Mit der Analyse eines Lebenslaufs pressen wir Menschen in Schablonen, werten und machen uns ein Bild über ihr bisheriges Leben, das nicht unbedingt mit dem eigenen Bild ihrer Zukunft übereinstimmen muss – wie ich es selbst im Coaching mit Klienten zur beruflichen Neuorientierung immer wieder erlebe. „Vergesst Lebensläufe, lernt Menschen kennen“ ist daher mein heutiger Impuls an alle Arbeitgeber und Recruiter, Bewerber – und an mich selbst ;)
Recruiting im trendigen Sog der Digitalisierung
Arbeitgeber beklagen einen Fachkräftemangel, entscheiden im Recruiting jedoch vielfach nach Kriterien von gestern. Auch wenn es niemand öffentlich zugeben wird, es geht um Alter, Geschlecht, Herkunft, Abschlüsse und den roten Faden im Lebenslauf. Wer nicht auf den ersten Blick passt, der ist raus. Diese Erfahrungen machen jedenfalls viele Bewerber 50+, Quereinsteiger, Initiativbewerber, Downshifter und alle, deren Lebensläufe nicht auf Anhieb selbsterklärend sind. Ich habe den Eindruck, dass diese enge Sicht auf Kandidatenprofile mit fortschreitender Digitalisierung weiter zunimmt – trotz (oder gerade wegen) des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetztes (AGG).
Ich verstehe, dass es bei der Personalauswahl um Sicherheit bei Entscheidungen geht, doch wer einen Matching-Algorithmus bei der Erstsichtung einsetzt, der auf Basis von Wischiwaschi Stellenausschreibungen eine Hand voll definierter Anforderungskriterien stumpf mit aus einem Lebenslauf automatisiert abgegriffenen Keywords abgleicht, dem gehen für die Position sowie das Unternehmen interessante Profile und Persönlichkeiten flöten. Wer für den ersten Kontakt mit Bewerbern Chatbots nutzt, um Kosten zu reduzieren und als trendiger Arbeitgeber daherzukommen, der produziert Daten statt Informationen über einen Menschen und verschreckt obendrein insbesondere Studierende und Berufseinsteiger, wie eine aktuelle Studie von Stefan Scheller ermittelt hat.
Software-Anbieter machen mit der Angst vor Fehlentscheidungen sowie HR unter immensem internen Innovationsdruck im Sog der Digitalisierung momentan ordentlich Kasse, doch ich sage voraus, dass es in einigen Jahren die Fehlentscheidungen in der Personalauswahl auf Basis von Robot-Recruiting und Algorithmen sein werden, die Organisationen und Teams ausbügeln müssen.
Lebensläufe sind Vergangenheit. Schaffen wir sie ab?
Auch wenn es aus heutiger Sicht revolutionär erscheint und ich selbst einen Teil meines Umsatzes als Bewerbungs-Coach gefährde, sollten wir über die Abschaffung von Lebensläufen nachdenken. Denn ich behaupte, dass so in Zukunft schneller und mehr Jobwechsler mit Arbeitgebern besser zusammenfinden. Auch wenn die Kosten im Recruiting zunächst ansteigen, werden diese im Verhältnis nur einen Bruchteil der Kosten infolge auf Dauer unbesetzter Stellen und steigender Fluktuation ausmachen. Was Fluktuation und Neubesetung kosten, das hat Marcus K. Reif berechnet.
Lebensläufe eigenen sich nicht mehr als Glaskugel für den Blick in die Zukunft, sie sind nicht mehr als der vergangene Lauf eines Lebens. Weil das Leben und auch unsere beruflichen Werdegänge immer bunter geworden sind. Weil Karrieren nicht mehr linear verlaufen, sondern sich unseren Lebensphasen anpassen. Weil wir für eine Zeit mal Generalist, mal Experte, mal Führungkraft, mal Studierende, mal Projektleiter, mal Praktikant oder vielleicht auch mal Selbständige sind. Weil wir uns entscheiden können, Führungsverantwortung abzugeben und wieder fachlich im Team zu arbeiten. Weil wir uns neu orientieren dürfen, die Branche oder sogar den Beruf wechseln. Dies alles wird in Zeiten von New Work und Arbeiten 4.0 mit allen Freiheiten der akademischen sowie beruflichen Möglichkeiten in unserer Gesellschaft und für jeden Einzelnen immer selbstverständlicher.
Personalauswahl erfordert kreative und soziale Intelligenz
Auch wenn mancher Arbeitgeber werbewirksam auf seinen Karriereseiten alle diese Möglichkeiten der inidividuellen Personalentwicklung bejaht, sieht die Realität ein Zimmer weiter im Recruiting oft noch anders aus. Denn wenn es hart auf hart kommt und eine Auswahlentscheidung getroffen werden muss, dann wird immer noch der Downshifter zum ehemaligen Burnout-Kandidaten erklärt, die Elternzeit im Lebenslauf des männlichen Managers belächelt oder der Bewerber mit tiefrotem Faden im Lebenslauf dem motivierten Quereinsteiger mit bester Berufserfahrung vorgezogen – sicher ist sicher.
Ich habe den Eindruck, dass unsere Gesellschaft mit den sich für Arbeitnehmer bietenden und auch zunehmend in Anspruch genommenen Möglichkeiten bereits weiter entwickelt ist als die Perspektive mancher Recruiter auf die Lebensläufe jener Arbeitnehmer. Wer sagt, dass ein studierter Physiker mit zehn Jahren Berufserfahrung in der Straegieberatung nicht genauso oder sogar besser geeignet ist als der Kandidat mit dem in der Stellenausschreibung zwingend geforderten betriebswirtschaftlichem Studium? Wer sagt, dass sich eine ehemalige Führungskraft in einer Position ohne Leitungsfunktion langweilen und einen schlechten Job machen wird, wenn sie/er sich für diesen Schritt bewusst entschieden hat? Wer sagt, dass ein langjährig erfahrener Controller nicht auch als Vertriebler geeignet sein kann? Sag mir, was du gestern getan hast und ich weiß, was morgen das Richtige für dich ist, das funktioniert nicht mehr.
Wer als Recruiter veraltete oder zu starre Schablonen auf Lebensläufe legt, der übersieht wertvolle Potenziale. "30 Prozent der Bewerber, denen Sie anhand der Unterlagen absagen, könnten den Job!", sagt Recruiting-Experte Henrik Zaborowski. Meiner Meinung nach die Ursache auch für einen hausgemachten Fachrkäftemangel. Gute Personalauswahl erfordert kreative und soziale Intelligenz, die (noch) nicht durch Maschinen ersetzt werden kann. Digitalisierung und Automatisierung können auf die Effizienz von Recruiting-Prozessen einzahlen, doch am Ende sollten Menschen über Menschen entscheiden.
Klarheit auf beiden Seiten mit echtem Interesse und Neugier auf Menschen sind Voraussetzungen, damit Jobwechsler und Arbeitgeber gut zusammenfinden.
Immer wieder sitzen mir Jobwechsler im Coaching gegenüber, die sich für Ihren Lebenslauf schämen und von mir erfahren möchten, wie sie Lücken besser kaschieren oder auf die Frage nach den Wechselmotiven für jede vergangene Station antworten müssen, um den Job zu ergattern. Wer gerade eine Kündigung hinter sich hat, wer Opfer von Mobbing geworden ist, chronisch im Job klein gehalten wurde oder wer trotz großzügiger Abfindung erfahren hat, dass sein Arbeitgeber keine Verwendung mehr für ihn hat, sie alle hadern nicht nur mit ihrer beruflichen Vergangenheit, sondern projizieren diese Erfahrungen auch in ihre Zukunft. Mit vielen Bewerbern arbeite ich länger an ihrer wieder selbstbewusst gesunden Haltung sich selbst gegenüber als an ihrem Lebenslauf und Anschreiben.
Was nützt ein perfekt designter und inhaltlich optimierter Lebenslauf samt überzeugend formuliertem Anschreiben, wenn ein Bewerber im Vorstellungsgespräch nicht an seine Stärken sowie Fähigkeiten glaubt? Ich finde es wichtig, dass sich jeder über den Lauf seines beruflichen Lebens bewusst ist und auch negative Erfahrungen gesund verarbeitet hat. Es ist richtig und wichtig, im Vorstellungsgespräch über die berufliche Vergangenheit zu sprechen, damit ein potenzieller Arbeitgeber versteht, was das Fach- und Erfahrungswissen für die gemeinsame Zukunft wertvoll macht. Doch ich bin der Meinung, dass die Zeiten vorbei sind, in denen wir uns für irgendeine Entscheidung in unserem bisherigen Leben rechtfertigen müssen.
Ich wünsche mir von Bewerbern, dass sie für sich versöhnlicher und für ihre berufliche Zukunft gelassener mit ihrem Lebenslauf als persönlichem Lauf ihres Lebens umgehen und, dass sie jedes Vorstellungsgespräch statt mit Angst über ihre Vergangenheit mit Neugier auf ihre berufliche Zukunft betreten.
Von Arbeitgebern wünsche ich mir Stellenausschreibungen mit klarer Kandidatenansprache statt der Suche nach irgendwem, der irgendwie passen könnte. Ausschreibungen, die Aufgaben und Verantwortungsbereiche klar benennen und echte Transparenz schaffen, etwa woran der Erfolg eines Mitarbeiters in dieser Position gemessen wird oder welches Gehalt die Stelle vorsieht. Klarheit schafft Sicherheit. Je besser Jobwechsler ihre Entscheidung für die Kontaktaufnahme mit einem Arbeitgeber treffen können, umso höher die Qualität der Eingänge auf Arbeitgeberseite.
Genau und erst dann wird ein kurzer Brief, ein Video oder eine Nachricht über soziale Netzwerke als erste Kontaktaufnahme und Interessenbekundung genügen, um - ohne Lebenslauf - neugierig auf den Menschen hinter einem Job-Interessenten zu machen und gemeinsam im persönlichen Austausch zu klären, ob es wirklich passt.
Aus eigener Erfahrung als ehemaliger Bewerber und heute als Coach bin ich mir sicher, dass Sie sowohl als Bewerber als auch in der Rolle als Recruiter oder Führungskraft positiv überrascht sein werden, wie viel zielführender und nebenbei auch angenehmer es sein kann, nicht länger vor allem über Lebensläufe und die Vergangenheit, sondern vielmehr klar und ehrlich über die Voraussetzungen, Möglichkeiten und persönlichen Vorstellungen einer gemeinsam guten Zukunft zu sprechen. Beide Seiten haben dies in der Hand - als Menschen mit echtem Interesse füreinander.
Was ist Ihre Meinung – sind Lebensläufe in Zukunft noch zeitgemäß? Ich bin gespannt auf Ihre Sichtweisen und Erfahrungen als Bewerber*in, Recruiter*in oder Chef*in.
* * *
Wenn Ihnen dieser Text gefallen hat, dann freue ich mich, wenn Sie ihn "liken" und in Ihrem Netzwerk teilen. Möchten Sie in Zukunft über meine neuen Beiträge informiert werden, dann folgen Sie mir hier einfach als XING Insider.
About the author
Insider for Job & Karriere, berufliche Neurorientierung, Bewerbung