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Wie klug sind wir wirklich?

Mittlerweile wird so viel über Künstliche Intelligenz (KI) kommuniziert, dass die Beschäftigung mit der „natürlichen“ Intelligenz und unserem spezifisch menschlichen Gehirn aus dem Blickfeld zu geraten scheint. Dabei verdanken wir unsere kognitiven Leistungen unserer Intelligenz und unserem voluminösen und komplexen Gehirn. Es wurde im Zuge der Evolution so groß, dass die Verbindungen zwischen den Teilen der Hirnrinde und der weißen Substanz zu lang wurden. Deshalb spezialisierten sich einzelne Teile des Cortex: So entwickelten sich die Sprachzentren des Gehirns ausschließlich auf seiner linken Seite, der das Logische, Rationale, Strukturierte und Männliche zugeschrieben wird. Der rechten Hälfte wird das Intuitive, Kreative und Weibliche zugeordnet. Kreative Menschen verfügen im hinteren Teil des rechten Temporallappens über mehr graue Substanz, was mit dem Persönlichkeitsmerkmal „Offenheit“ einhergeht. Auch wurden bei kreativen Menschen in weiteren Hirnregionen weitere weiße Substanz (mehr Verbindungen) gefunden.

Wie kann man sie erfassen? Gibt es einen Zusammenhang zwischen Digitalisierung und Intelligenz? Wie wirken sich moderne Technologie auf unsere Intelligenz aus? Warum beschäftigt uns der Intelligenzquotient wie ein Gütesiegel für die kognitiven Eigenschaften eines Menschen? Wie können Eltern dazu beitragen, hochbegabten Kindern zu einem möglichst geglückten und glücklichen Leben zu verhelfen? Wie kann man seine Intelligenz trainieren und verbessern? Sind Intelligenzwerte veränderbar und kognitive Fähigkeiten steigerbar? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Intelligenzforscher Jakob Pietschnig, Jahrgang 1982, in seinem Buch „INTELLIGENZ“. An der Universität Wien leitet er den Arbeitsbereich für Differentielle Psychologie und Psychologische Diagnostik am Institut für Psychologie der Entwicklung und Bildung.

In der Corona-Krise ist die Debatte um das Thema Bauchgefühl in Wirtschaft und Gesellschaft neu entfacht – vor allem vor dem Hintergrund von Fake News und Verschwörungstheorien. Hier braucht es Aufklärung, das Aufzeigen von komplexen Zusammenhängen und deren Einordnung. Die Publikation gehört auch in diesen Kontext, denn sie räumt mit Mythen und Lügen auf und schärft das klare Denken. So wird der Intelligenzquotient als Bewertungsparameter „brisant“ angesehen, weil hier eine objektive Vermessung mit dem individuellen Empfinden zusammentrifft. Intelligenz ist für Pietschnig ein Prozess im Gehirn und der IQ keine Leistung an sich, sondern eine Maßeinheit der Fähigkeit. Der amerikanische Psychologe und Professor für Kognition und Pädagogik Howard Gardner war überzeugt davon, dass die klassischen Intelligenztests nicht ausreichend waren, um diverse Fähigkeiten zu erkennen, die entscheidend für ein erfolgreiches Leben in verschiedenen kulturellen oder beruflichen Kontexten waren. Er schlug eine Auflistung beliebig erweiterbarer Arten von Intelligenz vor, die er als voneinander unabhängig betrachtete. Doch: „Der Verdacht keimt auf, dass es sich hier um eine pseudowissenschaftliche Benennung wünschenswerter Eigenschaften mit dem Zusatz Intelligenz handelt.“ (Detlef Rost) Spätestens seit Erscheinen seines Bestsellers „EQ. Emotionale Intelligenz“ (1995) wurde sein Konzept einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Emotionale Intelligenz und soziale Kompetenzen gehören für Pietschnig allerdings nicht zur Intelligenz. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um Persönlichkeitseigenschaften und nicht um Fähigkeiten. Die Ausprägung unserer Intelligenz ist seiner Meinung nach eine Folge der Kombination von genetischer Anlage (gibt die Bandbreite für unsere Intelligenzentwicklung vor) und Umwelteinflüssen.

Was seine Publikation auszeichnet, ist vor allem das Aufräumen mit Vorurteilen und dem Aufgreifen heikler Themen wie die Untersuchung von Gruppenunterschieden zwischen den Geschlechtern, wenn es um Intelligenz geht: „Viele trauen sich kaum, es zu beforschen, weil es so heftige Reaktionen auslöst. Dabei scheinen die verfügbaren Befunde kein Bild zu zeichnen, das zu heftigen Kontroversen Anlass geben sollte.“ Dabei gibt es keine belastbaren Daten, die Geschlechtsunterschiede nahelegen, wenn es um die allgemeinen kognitiven Fähigkeiten geht. Geschlechtsunterschiede sind wiederum in einzelnen Fähigkeitsdomänen gut untersucht. Bekanntlich sind männliche Gehirne in der Regel größer und durchschnittlich etwa 100 Gramm schwerer als weibliche. Allerdings sind die Nervenzellen im weiblichen Gehirn jedoch dichter gepackt, „sodass im Vergleich zu einem männlichen Gehirn in ein gleich großes Stück weiblicher Gehirnsubstanz mehr Nervenzellen hineinpassen.“

  • Es kommt auf die Effizienz an, mit der unser Gehirn auf Anforderungen reagiert: Intelligentere Gehirne verbrauchen weniger Energie als die weniger intelligenten (neurale Effizienzhypothese).

  • Es ist davon auszugehen, dass sich 50 Prozent der Intelligenz durch Erblichkeit erklären lassen, bislang konnten etwa 20 bis 50 Prozent der Gene identifiziert werden, die es für die Erklärung der beobachteten Erblichkeit braucht.

  • Vieles hängt auch von der fluiden Intelligenz ab, die so etwas wie eine Ressource darstellt, die den Ausschlag dafür gibt, inwieweit Bildung in Form von kristallisierter Intelligenz aufgenommen werden kann.

  • Um fluide Intelligenz trainierbar zu machen, wird beim Arbeitsgedächtnis angesetzt, das sieben (plus/minus zwei) Inhalte für eine kurze Zeit behalten kann, ohne sie dabei ins Langzeitgedächtnis zu übertragen.

  • Kindheit und Jugend sind ausschlaggebend für die Intelligenzentwicklung. Physische, soziale und Trainingsfaktoren entfalten dann ihre größte und stabilste Wirkung.

  • Im Erwachsenenalter ist es insbesondere die kristallisierte Intelligenz, die sich durch die aktive Beschäftigung mit immer neuen Inhalten weiterentwickeln lässt. Die kognitiven Fähigkeiten können bewahrt und kristallisierte Fähigkeiten verbessert werden.

  • Es gibt positive Zusammenhänge zwischen dem guten Abschneiden bei Intelligenztests und körperlicher und geistiger Gesundheit, längerer Lebensdauer, höherem Gehalt oder höherer Lebenszufriedenheit. Einsamkeit trägt im Alter zum Abbau der kognitiven Fähigkeiten bei.

  • Viel Bewegung in der Kindheit verzögert die Hirnalterung. Aerobe Bewegung, Laufen, Radfahren etc. scheinen auch im Alter günstige Effekte mit sich zu bringen. Anaerobe Tätigkeiten (z.B. Kraftsport) haben hingegen keine nennenswerten Auswirkungen.

  • Rauchen und Alkohol begünstigen den normalen Alterungsprozess und den Ausbruch vieler Arten von Demenz. Mit einem gesunden Lebensstil könnten 30 Prozent der Demenzfälle vermieden werden.

  • Die Möglichkeit, geistige Prozesse zu automatisieren, ist bei gesunden Menschen bis ins hohe Alter vorhanden. Auch dann noch können die kognitiven Fähigkeiten durch gesunde Ernährung, körperliches Training und die Beschäftigung mit geistig stimulierenden Inhalten lange erhalten werden.

Die Digitalisierung hat zwar die Anforderungen an unser Denken verändert, führt aber scheinbar nicht zu einem maßgeblichen Anstieg oder einer Abnahme der Intelligenz im Allgemeinen. Kulturoptimisten gehen davon aus, dass moderne Technologien Intelligenz begünstigen. Kulturpessimisten sind davon überzeugt, dass sich das Internet negativ auf das Wissen der Menschen auswirkt. Das Abrufen von Informationen auf Knopfdruck ersetze das mühsame Aneignen von Wissen. Die Forschungsliteratur gibt beiden recht.

Mit Klugheit verbindet er nicht nur Intelligenz, sondern auch Umsicht, Menschenkenntnis und Lebenserfahrung: „Die gemeinsame Schnittmenge von Begabung, Klugheit und Weisheit lässt uns der Einordnung von Intelligenz näherkommen, eine formale Definition jedoch gelingt uns damit auch nicht. Selbst im wissenschaftlichen Diskurs hat man sich bislang noch auf keine einheitliche wörtliche Definition geeinigt.“ Künftig werden Maschinen zwar immer mehr Standardaufgaben übernehmen, doch wenn es um Sonder- und Problemfälle geht, um konzeptionelle und planerische Aufgaben oder um kreative Lösungen, bedarf es unverändert menschlicher Intelligenz, Erfahrung und eigenverantwortlichen Handelns.

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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