Luft nach oben: Klimaneutralität im Kerngeschäft von Unternehmen
Im europäischen Green Deal ist das Ziel festgeschrieben, dass Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent werden soll. Mit dem Europäischen Klimagesetz wurden die Selbstverpflichtung der EU zur Klimaneutralität und das Etappenziel, die Netto-Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 % gegenüber dem Stand von 1990 zu senken, in bindendes Recht umgesetzt. Wie dies zu meistern ist, legt der Plan Fit for 55 dar, zu dessen Kernelementen folgende Maßnahmen gehören:
Reform des Europäischen Emissionshandels
Anpassung der EU-Klimaschutzverordnung
Anpassung der Richtlinie für Erneuerbare Energien sowie der Klima-, Umwelt- und Energiebeihilfeleitlinien
Einführung eines CO2-Grenzausgleichsystems.
Im Januar 2020 wurde der Global Risk Report des World Economic Forums (WEF) veröffentlicht, der den Klimawandel und dessen Folgen als größtes Risiko der Welt einstuft. Aus diesem Grund wurden bei der Neumarkter Lammsbräu die bereits 2012 formulierte Klimastrategie 2021 überarbeitet und und anhand der Science Based Targets neu ausgerrichtet. Passend dazu kam die Ankündigung der Fondsgesellschaft „BlackRock“, sich von Anlagen zu trennen, die ein großes Nachhaltigkeitsrisiko darstellen - damit ist das Thema Klimaschutz und Klimaneutralität in der Wirtschafts- und Finanzwelt endgültig angekommen. „Klimaschutz ist der Hauptmotor des Wachstums“, sagt der britische Ökonom Nicholas Stern, unter dessen Leitung die Weltbank bereits 2006 den „Stern-Report“ über das Klima verfasste. Schon damals wurde erkannt, dass die Weltwirtschaft, wenn nichts getan wird, zwischen fünf und bis zu 20 Prozent ihrer Größe verlieren könnte. Klimaschutz gibt es allerdings nicht umsonst. Eine Studie von McKinsey über Europas Pfad zur Klimaneutralität kommt auf enorme Summen: Etwa 1 Billion Euro Investitionen jährlich bis 2030 (davon müssen 800 Mrd. Euro an Investitionen, die heute in kohlenstoffintensive Technologien fließen, umgelenkt werden). Zusätzlich müssten 180 Mrd. Euro mobilisiert werden.
Das ist dringlich, denn in Bezug auf den Klimawandel ist es eher schon fünf nach zwölf - deshalb müssen auch Unternehmen den Handlungsspielraum, der noch bleibt, „voll ausschöpfen und die Umsetzung der dringend notwendigen Maßnahmen umgehend einleiten“, schreibt Johannes Ehrnsperger, Geschäftsführer der Biobrauerei Neumarkter Lammsbräu im aktuellen Nachhaltigkeitsbericht des Unternehmens. Darin wird ebenfalls beschrieben, wie das Unternehmen Klimaneutralität erreicht. Die CO2e-Emissionen im direkten Einflussbereich werden hier bereits kontinuierlich vermieden bzw. reduziert, wo es machbar ist. Künftig soll dies aber noch deutlich verbessert werden. Alle nicht vermeidbaren CO2e-Emissionen werden durch anerkannte und offiziell nach dem Gold bzw. Verified & Social Carbon-Standard zertifizierte Klimaschutzprojekte kompensiert. Im Rahmen eines gemeinschaftlichen Klima-Projektes mit der Universität Kassel und dem Klimaschutzunternehmen e.V. wird eine Potentialanalyse am Standort durchgeführt, aus der unter Berücksichtigung ökonomischer Aspekte Maßnahmen für die CO2e-Reduktion und ein an den Vorgaben der Science Based Targets (SBT) Initiative orientiertes Ziel abgeleitet und auf Umsetzung bis 2030 hin überprüft werden. Daneben wird auch der Fuhrpark künftig noch nachhaltiger ausgerichtet (Umstieg auf Elektromobilität, Ladesäulen am Standort mit 100 % Ökostrom). In den vergangenen Jahren konnte z. B. durch Treibstoffeinsparungen im Fuhrpark und Energieeffizienzsteigerungen in der Produktion bereits viel erreicht werden.
Für die Planung, Steuerung und Umsetzung aller Optimierungspotentiale ist hier Thomas Plank, Leiter Instandhaltung & Energie, zuständig. 2021 wird hier auch die Druckluftzentrale modernisiert. Dieses Thema entfällt in der gängigen Nachhaltigkeitsberichterstattung häufig, dabei ist es auch im Kontext der Klimaneutralität dringlich, sich damit eingehender zu beschäftigen, denn mit dem Aspekt Leckage ist man „nie fertig“. „Beim Auto steht ja auch ein regelmäßiger Ölwechsel an. Ähnlich ist es bei der Druckluft – auch hier muss ich die Bauteile regelmäßig überprüfen. Während es beim Auto quietscht, tauchen im Bereich Druckluft Leckagen auf“, sagt Benjamin Flaig, Energie- und Gebäudemanager des „Energieteams“ bei Ritter Sport. 2020 konnte das Unternehmen das Ziel „Klimaneutralität“ erreichen. Rund 70 % des eigenen Wärme- und 40 % des Strombedarfs werden am Standort Waldenbuch über ein firmeneigenes Blockheizkraftwerk und Photovoltaik abgedeckt, der Rest wird komplett mit „grünem Strom“ aus erneuerbaren Energien ergänzt. Druckluftleckagen werden bei der Alfred Ritter GmbH & Co KG gemeinsam mit Pneumatikspezialist Mader beseitigt. Durch verschiedene Maßnahmen konnte die Leckageluft in nur zwei Jahren halbiert werden, schreibt Ulrike Böhm, verantwortlich für Changemanagement und Unternehmenskommunikation bei Mader GmbH & Co. KG in Leinfelden-Echterdingen.
Gemeinsam mit Stefanie Kästle, Mitglied der Geschäftsführung, setzt sie sich dafür ein, dass das Thema mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erhält. Beide gehören – wie Johannes Ehrnsperger, zur Generation Y, die gerade wichtige Führungspositionen in der Wirtschaft übernimmt und sich durch ein besonders leidenschaftliches Engagement für Nachhaltigkeit auszeichnet. Dazu gehört, auch das „scheinbar“ Nebensächliche in den Blick zu nehmen - wie das Thema Druckluft, die bei Ritter Sport schon bei der Warenannahme eingesetzt und im weiteren Verlauf als Steuerluft genutzt wird. Beim Herstellen der Schokoladentafeln wird der Energieträger für den Betrieb von Ventilen und Zylindern in den Maschinen benötigt. Auch die Reinigung der Schokomasseleitungen erfolgt mit Druckluft. Neben der Qualitätsüberwachung spielt auch das Energiemonitoring eine wichtige Rolle im Druckluftprozess. Seit 2019 arbeitet das Unternehmen mit dem süddeutschen Druckluft- und Pneumatikspezialisten Mader zusammen – auch im Bereich der digitalen Dienstleistungen: Per App und Portal kann der Energiemanager sich jederzeit live darüber informieren, wie viele Leckagen geortet wurden, wo sie sich befinden, wie viel Druckluft darüber verloren geht, wie viele Leckagen bereits beseitigt wurden und welche konkreten Ersparnisse sich daraus ergeben. Das Unternehmen setzt sich jährliche Ziele, um den Energiebedarf für die Produktion zu senken. Die Beseitigung von Druckluft-Leckagen ist ein Baustein dieser Strategie.
Diese Beispiele aus der Unternehmenspraxis belegen, dass es sich heute niemand mehr leisten kann, das Thema Klimaneutralität im Kerngeschäft zu vernachlässigen. Es ist auch von strategischer Bedeutung, denn die Risiken, die sich aus dem Klimawandel vor allem in den Bereichen Produktion, Betriebsabläufe und Lieferkette ergeben, müssen richtig gemanagt werden.
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